Wie eine Blaskapelle unser Leben veränderte – von Thorsten Wildhardt

3.Kapitel: 1998 – Das Chaosjahr

Im Mai 1998 kauften wir uns einen alten Mercedes Feuerwehrbus (Baujahr 1961), der zum Wohnmobil ausgebaut war. Wofür genau, das war nicht so ganz klar, weil wir beide keine Anhänger von Camping waren, aber die Form des Autos faszinierte uns. Im gleichen Monat besuchten wir an Pfingsten das „mittelalterliche Spectaculum“ in Oberwesel, unseren 2. Mittelaltermarkt überhaupt. Wir vernahmen seltsame, noch nie zuvor gehörte Musik und ergründeten ihre Herkunft. Auf der Hauptbühne standen einige seltsam gekleidete Herren, die auf erstaunlichen Instrumenten Musik machten. Diese Musik war derartig mitreißend, dass es selbst biedere Krawattenträger auf der Tribüne von ihren Sitzen riss. Unglaublich, diese Musik ging sofort ins Ohr und wollte gar nicht mehr raus!
Nach dem Auftritt kam es zu tumultartigen Szenen, als Micha verkündete „Ihr könnt uns mit nach Hause nehmen … in Form dieser silbernen Scheiben“. Wer live dabei war hätte meinen können, dass er zum sofortigen Massenaufstand aufgerufen hätte. Nicht alles, dass sich die Menschenmassen um die CDs und die Tourpläne geprügelt hätten.
Noch völlig beeindruckt von dem, was wir erlebt hatten, traten wir den Heimweg an, nachdem wir die beiden Akustik-CDs „Gold“ und „Hameln“ von Py erworben und einen Tourplan (so richtig aus Papier, zum zusammenfalten und einstecken) ergattert hatten. Wir dachten noch darüber nach, warum Py fast entschuldigend sagte „Wir sind eigentlich `ne Rockband“ und ob wir „Weckt die Toten“ (die ja offiziell erst ab Juni erhältlich war) doch hätten kaufen sollen. Aber Mittelaltermusik und Rock ? Passt das zusammen?
Beim Studium des Tourplans kam Ernüchterung auf: Alle Auftritte waren zu weit weg oder terminlich nicht zu schaffen, bis auf einen: Wäschebeuren. Aber wo liegt das, in meiner Karte fand ich nur Wäschenbeuren. Schnell mal Micha auf dem Handy angerufen (die Nummer war auf den alten Tourplänen zu finden!) und gefragt: „Joojoo, es muss Wäschenbeuren heißen, außerdem gibt es einen zusätzlichen Termin, der nicht im Tourplan steht: Das Festival in Mainz-Kastel Anfang Juli“. Wow, das ist ja um die Ecke bei uns und dort spielen sie die Rockshow.
Sofort wurde die Merchandising-Liste angefordert, die uns (Reiners Freundin) Ada auch prompt zufaxte. Schnell ein T-Shirt und Aufkleber bestellt. Kann man immer gebrauchen!
Es machte einige Mühe, telefonisch Auskünfte über den genauen Auftrittstermin von I.E. auf dem zweitägigen, kostenlosen (!!!)  Festival zu bekommen, schließlich handelte es sich beim Veranstalter um eine Wohnungsbaugesellschaft. Der Auskunftgeber war auch schon etwas entnervt von den Anfragen: „Alle fragen bloß nach IN EXTREMO, dabei haben wir auch noch viele andere sehr gute Gruppen. Sie wissen ja, dass die es ordentlich krachen lassen?“ Wir ahnten es, deswegen wollten wir ja unbedingt dorthin!!!
Wir waren rechtzeitig vor Ort, um festzustellen, dass schon eine Band auf der Bühne spielte, aber das wenige Publikum sich eher auf dem Gelände verteilte anstatt vor der Bühne zu stehen. Einige wenige Gewandete ließen vermuten, dass es sich um Fans einer ganz bestimmten Gruppe handelte. Ich kam mir etwas verloren vor, als Einziger mit einem IN EXTREMO- T-Shirt hier herumzulaufen. Schließlich entdeckten wir den unscheinbar kleinen Merchandising-Stand, den mittlerweile schon André betreute. Er staunte nicht schlecht, einem I.E.-T-Shirt-Träger zu begegnen.
Als die Jungs auf die Bühne kamen, sammelte sich schon ein wenig Publikum vor der Bühne, um zu sehen, was diese merkwürdig gekleideten Gestalten für Musik machen. Als sie loslegten wurde es schlagartig leer auf dem gesamten Gelände. Es waren zwar noch keine Menschenmassen (wie heute etwa), aber vor der Bühne wurde es voll. Allerdings wurde halbkreisartig ein Respektabstand vor den obskuren Gestalten gehalten. Micha forderte doch dazu auf, näher zu kommen. Dem wurde auch artig Folge geleistet, aber es mutete schon merkwürdig an, dass bei „Hiemali Tempore“ Bassist Kay und Gitarrist Thomas unter Ritterhelmen verschwanden, kleinere Schaukämpfe auf der Bühne abgehalten wurden und Micha ein akustisches Kettensägen-Massaker veranstaltete (er ließ eine große Kettensäge direkt vor dem Mikro aufheulen). Nach dem Auftritt passierte (in kleinem, bescheidenem Rahmen) das, was heute immer noch passiert. Die CDs am Merchandisingstand wurden geplündert.
Für unsere Feuerwehr als zukünftiges IN-EXTREMO-Mobil kaufte ich bei André zwei riesige Aufkleber, weil ich seiner Preisgestaltung nicht widerstehen konnte („Ein Aufkleber kostet 15 DM, zwei Stück 20 DM“).Zuhause angekommen wurden diese sofort aufgeklebt und von mir der typische I.E. Schriftzug in zweitägiger Kleinstarbeit von Hand aus schwarzer Klebefolie  ausgeschnitten und am Heck befestigt.
So gerüstet fuhren meine Frau und ich rechtzeitig los Richtung Wäschenbeuren, in der Hoffnung, dass dort (wie im Tourplan angekündigt) ein Mittelaltermarkt sei, auf dem die Jungs auftreten. Unsere Erwartungen waren groß, schließlich waren wir total begeistert und hatten zum ersten Mal unseren Sommerurlaub so gelegt, dass wir eine Veranstaltung besuchen konnten.
Als wir gegen 16 Uhr am Wäscherschloss ankamen, war von einem Mittelaltermarkt weit und breit nichts zu sehen. Wir parkten unseren Bus auf dem unterhalb vom Schloss gelegenen Auto- und menschenleeren Parkplatz. Beim Aufstieg bemerkten wir zwei Gestalten, die an einem kleinen Tisch saßen und interessiert unser Kommen beobachteten. Es waren Kay und Micha, die in einem alten Citroen Kombi angereist waren. Ich kam sofort mit Micha über alte Autos ins Gespräch. So erfuhren wir auch, dass es sich nicht um einen Mittelaltermarkt-Auftritt, sondern um ein Konzert im Burghof handelte. Auch gut, dachten wir, und besichtigten erst einmal die Burg Wäscherschloss (wie es korrekt heißt). Es stellte sich als ein kleines, aber sehr schönes Bauwerk heraus, das für Veranstaltungen dieser Art bestens geeignet erschien.
Bei sehr schönem Wetter verbrachten wir die Zeit in und ums Schloss. Die Ruhe, die Natur, einfach herrlich. Irgendwann kam ein sehr alter, orangener Ford Transit-Bus (den wir schon vom Wohnbau-Festival kannten), der den Rest der Truppe brachte.
Es wurde gelacht, aufgebaut, geprobt, usw.…! Von Menschenmassen keine Spur (kann man sich das überhaupt noch vorstellen heutzutage?).Gegen 18 Uhr kam ein Paar, das wohl auch das Konzert besuchen wollte, aber erst gegen 19 Uhr trudelten immer mehr Leute ein. Als das Konzert so gegen 20.20 Uhr anfing, war sofort eine Superstimmung. Auch die als 20-minütige Pause angekündigte 45-Minuten-Pause konnte daran nichts ändern. Die insgesamt zwei Stunden Konzert waren bis heute mit das Beste, was uns an akustischen Auftritten im Gedächtnis geblieben ist. Es gab aber auch die volle Dröhnung: Micha spuckte Feuer, Flex erwies sich als der Biegsame, Boris spielte mit den brennenden Feuerstäben und es gab Zugaben über Zugaben.
Nach dem Ende des Konzerts wurde vorm Schloss noch weitergefeiert und als wir schließlich unser fahrbares Bett bestiegen war ein absolut großartiger Abend zu Ende gegangen. Am nächsten Morgen kam einem alles wie ein Spuk vor. Die Feuerwehr stand ganz alleine auf dem ansonsten Auto- und menschenleeren Parkplatz.
Nach dem Frühstück machten wir uns auf den Heimweg und wir waren uns sicher: Wir haben eine bisher nicht gekannte Leidenschaft entdeckt: Mittelaltermärkte, Mittelaltermusik und vor allem: IN EXTREMO.
Wir fuhren zu jedem erreichbaren Konzert und Mittelaltermarkt, denn zu diesem Zeitpunkt gab es auch noch reichlich akustische Auftritte. Die Jungs hatten den Nerv der Zeit getroffen und die Erfolgskurve zeigt immer noch nach oben.
Die Hallen wurden größer, die Zuschauerzahlen stiegen und nach und nach verbesserte sich auch die Auffindbarkeit der Veranstaltungsorte. Anfangs gab es da teilweise große Probleme, weil die Postleitzahl fehlte (das ist besonders lustig, wenn es mehrere Orte mit gleichem Namen in ganz Deutschland verteilt gibt und keiner weiß, welcher der richtige ist), die Angabe der Hallen wurde genauer (1998 fand der Auftritt der Jungs in Andernach nicht – wie im Tourplan angekündigt – in der Stadthalle statt, sondern in einer Turnhalle, die man auch erst mal finden musste).
Der SWR veranstaltete damals noch das „Festival der Spielleute“, welches im Fernsehen übertragen wurden. Dort traten sie seit 1997 auf und gewannen 1998 die Zuschauerabstimmung als „Spielleute des Jahres“. Leider hat der SWR die Festivals Ende 1999 wegen mangelnder Zuschauerzahlen aus dem Programm gekippt (wen wundert die Quote bei einer Übertragung im Sommer sonntagmittags?)
Aus unserer Sicht hat sie der Erfolg nicht verändert. Sie sind nach wir vor absolut sympathisch. Heutzutage wird immer mal wieder moniert, dass die Jungs nicht mehr so offen seien wie früher. Aber das kann nicht ausbleiben! Es ist richtig, dass anfangs eine richtig familiäre Atmosphäre herrschte, aber da war die Zahl der eingefleischten Fans auch noch nicht so groß.
Bei uns hat sich viel verändert seit damals: Das gemeinsame Interesse Mittelalter wurde geweckt und wir haben in dieser Szene so viele nette Leute kennen gelernt, denen wir sonst nie begegnet wären. Seit 1998 legen wir unsere Sommerurlaube immer so, dass wir die jährlich stattfindenden Konzerte im Wäscherschloss besuchen können. Natürlich ist es schade, dass 2003 kein Konzert stattfand, aber die Rockkonzerte nehmen einen derart großen Raum ein und der Vorsatz, neue Akustikstücke zu erarbeiten, um nicht immer mit dem gleichen Repertoire aufzutreten, ist lobenswert. Es gibt viele andere Gruppen, die seit Jahren ausschließlich mit dem gleichen Programm auftreten. Dann muss man sich über sinkende Akzeptanz nicht wundern.
Wir wollen unsere Lieblingsband auf jeden Fall noch ganz viele Jahre sehen und hören und wünschen deshalb „unseren“ Jungs weiterhin viel Erfolg und jede Menge gute Ideen!!
(Thorsten Wildhardt, In Extremo-Fanclub)

Das Fotoshooting für „Weckt die Toten!“ bleibt bis heute unvergessen: „Habt Ihr eine Idee, welche Kulisse wir nehmen können?“, fragte uns Doro eines Tages. Sie hatte den Fotografen Tutti Nitz beauftragt, mit uns ein paar Pressefotos zu schießen – einmal im Studio und einmal in „freier Wildbahn“ irgendwo draußen.
Ich hatte eine! Mein Freund Arni wohnt in einem kleinen Dorf in der Nähe von Elsterwerda, nicht weit von Dresden entfernt. Und immer wenn ich ihn besuchen fuhr, musste ich am Autobahnkreuz Cottbus/ Dresden an den ehemaligen Tagebaurestlöchern der „Laubag“ vorbeifahren, die hier im Laufe der letzten 40 Jahre auf der Suche nach Braunkohle eine riesige Mondlandschaft hinterlassen hat. Also fuhr ich eine Woche vor dem angesetzten Fototermin mit dem Auto schon mal dorthin, um mir die ganze Sache aus der Nähe zu betrachten. Es war einfach unglaublich! Es sah wirklich aus wie auf dem Mond – Krater soweit das Auge blicken konnte! Die Kulisse wurde gebongt und wir fuhren ein paar Tage später los. Doro war auch mit von der Partie. Wir fuhren die alten LKW-Wege entlang, parkten irgendwo in der Pampa und zogen uns schließlich um. Es war ein Bild für die Götter: Sieben verkleidete Gestalten irrten ziellos durch die Kraterlandschaft – immer angetrieben von den Befehlen des Fotografen: „Ey Pelzkragen, Gesicht zur Sonne – ja sooooo! Immer direkt in die Sonne blicken, auch wenn´s schwer fällt! Ey Schwuler, ab in die Reihe – Gesicht zur Sonne!“ Tutti fotografierte wie ein Verrückter aus allen nur erdenklichen Positionen, leider wollte er sich partout unsere Namen nicht merken, weshalb er eben „liebevoll“ ein paar neue erfand. Es war aber okay, er war ein ganz netter Typ und meinte es nicht ernst. Ansonsten hätte man ihn sicherlich erst ein paar Jahre später als ausgeblichenes Skelett dort wiedergefunden…
Schließlich nahte unsere Record Release Party, die am 30.7. im Berliner Pfefferberg stattfinden sollte. Für uns war es mittlerweile nur noch ein Konzert unter vielen und nicht mehr als das Bergfest des Jahres 1998. Wir hatten ja noch nicht einmal CDs mit dabei, die konnten leider noch nicht ausgeliefert werden, da das Presswerk wohl Lieferschwierigkeiten hatte. Na Klasse!
Eine Woche vor diesem Konzert hatten wir sogar noch die Zeit gefunden, ein Konzert auf der Runneburg in Weißensee/ Thüringen für eine Akustik-CD mitzuschneiden, welche Ende des Jahres als „Die Verrückten sind in der Stadt“ in die Läden kommen sollte. Zwischen diesem ganzen Terminstress mussten wir schließlich auch noch unseren Pyrotechniker auswechseln und unser gesamtes Showkonzept überarbeiten, da wir durch unser permanentes Feuerlegen auch langsam ernsthaft Ärger mit den Veranstaltern bekamen. Unser neuer Mann Grufti, Pyromane und Lichtmann in einer Person, sah dann In Extremo das erste Mal In Extremo bei unserem Konzert im Pfefferberg – und war sofort „Feuer und Flamme“.

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