Shortstories
Vorwort

Jeder von euch kennt sicherlich das Gefühl, wenn man manchmal tagelang von einem Song verfolgt wird, der sich einfach nicht vertreiben lässt. Ganz im Gegenteil: Je mehr man darüber nachdenkt wie man ihn wieder loswird, desto hartnäckiger wehrt er sich gegen seine Vertreibung. So bin ich vor einigen Jahren auf die Idee gekommen, zu genau diesen Songs ein paar Geschichten zu schreiben, auch um für mich selbst zu erfahren, warum sie eigentlich so wichtig geworden sind?

Nicht alle dieser Lieder möchte man ja unbedingt loswerden, viele waren geradezu bedeutend für bestimmte Lebensabschnitte und mit vielen dieser Songs kann man sich auf wunderbare Weise zurück in eine Zeit beamen, die man schon längst vergessen glaubte. Welche Kunst kann das schon von sich behaupten? So bilde ich mir zum Beispiel ein, noch genau zu wissen, welche Früchte auf meinem Eisbecher im Sommer 1976 waren, als ich im Radio eines Cafés in meiner Heimatstadt Potsdam zum ersten Mal „Dancing Queen“ von ABBA hörte, eine Single, die es wenig später sogar in der DDR zu kaufen gab.
Oder die verqueren Texte von Ton Steine Scherben, die sie 1981 auf ihrem Album „IV“ veröffentlicht haben: Man selbst war gerade als wütender Jugendlicher auf dem Weg nach Berlin unterwegs, die Hormone spielten verrückt und man war drauf und dran die Weltrevolution zu starten. Ich hatte „Ich will nicht werden was mein Alter ist“ im Ohr, Rio Reisers Ode an alle wütenden Jugendlichen – und nun das! Ich hasste die neue Platte mit all diesen merkwürdigen, mir völlig unverständlichen Texten – und dann war es genau dieses wunderbare Werk, was mich ein Jahr später selbst zum Stift greifen und erste Texte für die eigene Band schreiben ließ. Und aus eben diesen Gründen würde ich diese Platte heute immer noch auf die berühmte „einsame Insel“ mitnehmen, falls mich mal jemand fragen sollte.
Ich will an dieser Stelle in loser Reihenfolge ein paar meiner alten Geschichten veröffentlichen und hoffe, dass auch noch ein paar weitere Geschichten im Laufe der Zeit dazukommen. Manche Songs werden euch bekannt vorkommen, manche dieser Songs werden wohl aus gutem Grund für immer unbekannt bleiben – und manche sind mir eigentlich furchtbar peinlich.
Doch eines eint sie allemal: Sie sind wichtig!
Viel Spaß beim Lesen!

Eine Muh, eine Mäh, eine Tätärätätä – Abstürzende Brieftauben (1992)
Little Drummer Boy – Boney M (Christmas Album/1981)

Nein, das wird keine Weihnachtsgeschichte, keine Angst. Ich bin mir übrigens ziemlich sicher, dass es da draußen noch viele, viele andere Leute gibt, die vom Weihnachtsrummel, besonders in der Vorweihnachtszeit, ebenso genervt sind wie ich. Da will ich nicht auch noch Öl ins Feuer gießen. Außerdem bin ich Atheist. Und was soll bei einem Atheisten anderes aus der Feder fließen, als ein Text, in dem ein betrunkener Weihnachtsmann endlich mal frei hat und tun und machen kann, wonach ihm der Sinn steht? Doch wo fange ich an, um das ganze Dilemma zu beschreiben? Ich glaube, ich habe da eine Idee:

Einer der schrecklichsten Tage des ganzen Jahres ist für mich jedes Mal aufs Neue der letzte Sonntag im Oktober, wenn wieder einmal die Uhren auf Winterzeit zurückgedreht und Dunkelheit, Schneeregen und Graupelschauer wie auf Bestellung vor der Tür stehen und einem das Leben zur Hölle machen. Manche Leute versuchen es einfach zu ignorieren, manche nennen es Winterdepression, doch es Weiterlesen

Bild - Beitrag Raststätten-Dillemma

Nackt im Wind – Band für Afrika (Nackt im Wind, 1985)

Es würde wohl noch eine ganze Weile länger dauern, bis ich mich wieder in die verschütteten Regionen meiner Erinnerungen zurückgearbeitet hätte, wäre da nicht diese eine Geschichte mit unserem alten Gitarristen und seiner letzten Fahrt im Nightliner. Es war im Oktober 1999, es war die letzte Nacht vor dem letzten Tourtag einer fast dreiwöchigen Tour, die uns von der Markthalle in Hamburg einmal quer durch das ganze Land wieder hoch nach Bremen führte. Es war unsere erste Tour durch Klubs und Stadthallen überhaupt, denn In Extremo hatten bisher nur akustisch auf Mittelaltermärkten gespielt, abgesehen von ein paar vereinzelten Rockkonzerten an den Wochenenden, zu denen wir mit unserem alten, orangefarbenem Ford Transit unterwegs waren, dessen 2.Gang seit Jahren nicht mehr funktionierte. Man konnte nur inständig beten, dass die alte Karre nun endgültig verschrottet war und nicht noch eine weitere Karriere in Osteuropa gestartet hatte. Weiterlesen

Rennsteiglied – Herbert Roth (Mit Herbert Roth durch’s Thüringer Land/1963)

Den Weißwurstäquator kennt wohl jeder, der einmal mit bayrischen Essgewohnheiten in Berührung gekommen ist. Doch ob die imaginäre Grenze nun entlang der Donau, 100 km um München herum oder aber – sehr zum Ärger der Franken – direkt entlang der Landesgrenze zwischen Bayern und Thüringen verläuft, ist mir als Berliner und Ostler völlig Wurst. Ich esse Weißwurst nur, wenn überhaupt nichts anderes da ist und ich kurz vor dem Verhungern bin.
Nicht ganz so berühmt ist der Bratwurstäquator, sein Thüringer Pendant, bei dem allerdings noch die Frage seiner Existenz geklärt werden muss. Gibt es ihn überhaupt oder ist er nur  ein Mittel, um Besucher zu verwirren. Ich habe nicht die geringste Ahnung, deshalb verlege ich ihn einfach direkt auf den Rennsteig, den Höhenweg des Thüringer Waldes, an dessen Ende östlichem Ende übrigens heimlich Kümmel in die Wurst getan wird. Ein Verbrechen.

Ich wandre ja so gerne am Rennsteig durch das Land
Den Beutel auf dem Rücken, die Klampfe in der Hand

Gottverdammt, ich habe es versucht, damals im Frühjahr 1981, bei meinem ersten Wanderversuch in Thüringen, Weiterlesen

Bild Beitrag Soziale Haengematte

On The Road Again – Willie Nelson & Family (Honeysuckle Rose/1980)
Take Me Home, Country Roads – John Denver (Poems, Prayers, Promises/1971)

Kein Job, kein Geld, keine Ahnung wie es weitergehen soll? Irgendwie können die Witze aus „Otto – Der Film“, immerhin auch schon aus dem Jahr 1985, heute kaum noch mehr jemanden hinter dem Ofen hervorlocken, aber dieser eine Satz ist mir doch in Erinnerung geblieben. „…das Kleingedruckte müssen sie nicht lesen, das ist nicht gut für die Augen!“ Was damals auch im Osten für Erheiterung sorgte, war komischerweise 4 Jahre später, kurz nach dem Fall der Mauer, schon wieder in Vergessenheit geraten. Ich wollte es nur noch mal gesagt haben. Doch wie kriege ich jetzt die Kurve?
Wenn man mit dem Motorrad in der skandinavischen Einöde unterwegs ist und sich eine schnurgerade, 150 km lange Straße durch das finnische Lappland vor einem abspult, dann fallen einem die komischsten Songs und Geschichten ein, Geschichten die man längst vergessen geglaubt hat. Irgendwann ertappe ich mich dann Weiterlesen

Schön ist es auf der Welt zu sein – Roy Black & Anita (Eine Liebesgeschichte/1971)
Looking For Freedom – David Hasselhoff (Looking For Freedom/1989)
Born In The GDR – Sandow (Systemausfall/Sampler/1990)

Ich mag den Geruch von mit Altöl gestrichenen Holzzäunen. Ich weiß, dass wäre mittlerweile umwelttechnisch höchst verwerflich und politisch unkorrekt (auch wenn ich gern politisch unkorrekt bin), doch in meiner Jugend war das einfach die beste und preisgünstigste Art von Recycling: Man entsorgte das Motorenöl der Autos und Motorräder und strich damit zu Hause die Gartenzäune, damit sie bis in alle Ewigkeit durchhielten. Und das hätten sie auch getan, wenn ihnen nicht plötzlich die Wende dazwischen gekommen wäre. Die Wende, die so vieles beendet hat – nicht nur die Existenz von Holzzäunen, die mit Motorenöl gestrichen wurden.
Wenn ich auf seine Kindheit zurückschaue, dann scheint komischerweise im Sommer stets die Sonne, während ich im Winter stets und ständig mit dem Schlitten unterwegs bin und unter dem Tannenbaum unentwegt Geschenke auspacke. Außerdem ist es jedes Mal Weiterlesen

Bild Beitrag Im Puff Draengeln

Born To Be Wild – Steppenwolf (Live/1970)

Sorry, ich hatte das Ganze irgendwie komplett verdrängt und muss nun wohl leider zugeben, dass eine der wohl abgedroschensten Nummern der gesamten Rockgeschichte bei mir immer noch Gänsehaut erzeugt, wenn ich sie einmal zufällig im Radio höre.

Yeah, darlin‘, gonna make it happen
Take the world in a love embrace
Fire all of your guns at once
And explode into space

Zufällig heißt in diesem Fall, dass ich mich irgendwo außerhalb des Großraums Berlin auf der Autobahn befinde und hektisch am Sendersuchlauf des Radios hantiere, um halbwegs brauchbare Musik zu empfangen. Weiterlesen

Nimm den nächsten Zug – Howard Carpendale (Nimm den nächsten Zug/1977)
Für immer und dich – Rio Reiser (Rio I/1986)
I.L.D. – Rockhaus (I.L.D./1988)
Der Traum ist aus – Ton Steine Scherben (Keine Macht für Niemand/1972)

Silke Hochstätter, ich weiß es noch ganz genau. Wie könnte ich diesen Namen je vergessen? Sie saß zwei Bankreihen vor mir und es verging kaum eine Unterrichtsstunde, in der ich nicht ununterbrochen von hinten auf ihre blonden Zöpfe starren musste. Sie reichten ihr bis zu den Hüften und ich träumte so manches Mal davon, dass ich auf einem Pferd an ihrem Burgverließ vorbeiritt und so lange rief, bis sie mir ihre Zöpfe hinunterwarf und ich sie aus ihrem Gefängnis befreien konnte. Ich schämte mich zwar dafür, in der 4.Klasse noch von Rapunzel zu träumen, aber es wusste ja niemand. Was aber alle wussten war die Tatsache, dass ich in Silke Hochstätter verliebt war. Alle wussten es, meine ganze Klasse, meine ganze Schule, wahrscheinlich ganz Potsdam – bis auf Silke Hochstätter natürlich. Es war zum Verzweifeln, denn sie liebte Weiterlesen

Wir wollen doch einfach nur zusammen sein – Udo Lindenberg (Alles klar auf der Andrea Doria/1973)

Während meiner Zeit in der Grundschule war Westberlin ein einziger weißer Fleck inmitten einer ansonsten sehr farbigen Landkarte, welche – im Gegensatz zum wirklichen Leben – die DDR darstellen sollte. Später erinnerten mich diese Landkarten immer an die Camel-Werbung, die im Vorabendprogramm immer zwischen den Mainzelmännchen lief.
„Ich gehe meilenweit für eine Camel Filter“, sprach dort mit tiefer Bassstimme ein sportlicher Typ, der sich aus nicht nachvollziehbaren Gründen in eleganter Freizeitkleidung inmitten der mexikanischen Wüste verirrt hatte und trotzdem niemals zu schwitzen schien. Wahrscheinlich war er Anhänger irgendeiner obskuren Sekte, die hier draußen nach Zeichen von Außerirdischen fahndete oder ein Musiker auf Selbsterfahrungstrip, der später seine Erfahrungen auf Vinyl pressen lassen wollte, um damit für die Legalisierung von Cannabis zu werben. Weiterlesen