Schwarztaxi
Wir wollen doch einfach nur zusammen sein – Udo Lindenberg (Alles klar auf der Andrea Doria/1973)
Während meiner Zeit in der Grundschule war Westberlin ein einziger weißer Fleck inmitten einer ansonsten sehr farbigen Landkarte, welche – im Gegensatz zum wirklichen Leben – die DDR darstellen sollte. Später erinnerten mich diese Landkarten immer an die Camel-Werbung, die im Vorabendprogramm immer zwischen den Mainzelmännchen lief.
„Ich gehe meilenweit für eine Camel Filter“, sprach dort mit tiefer Bassstimme ein sportlicher Typ, der sich aus nicht nachvollziehbaren Gründen in eleganter Freizeitkleidung inmitten der mexikanischen Wüste verirrt hatte und trotzdem niemals zu schwitzen schien. Wahrscheinlich war er Anhänger irgendeiner obskuren Sekte, die hier draußen nach Zeichen von Außerirdischen fahndete oder ein Musiker auf Selbsterfahrungstrip, der später seine Erfahrungen auf Vinyl pressen lassen wollte, um damit für die Legalisierung von Cannabis zu werben. Er wanderte jedenfalls äußerst fröhlich durch die Gegend, ab und zu sprang er sogar von Fels zu Fels, bis er dann plötzlich eine Pause machte, um sich genüsslich eine Zigarette anzustecken. Dann erst schlug er die Beine hoch und die Kamera fuhr langsam in Richtung seiner Schuhsohlen, die in Großaufnahme ein riesiges Loch zeigten: Westberlin!
Schon in der Grundschule beschloss ich, später einmal Camel Filter zu rauchen. Mir war zwar das HB-Männchen damals sympathischer, doch je älter ich wurde, desto spannender wurde die Vorstellung später auch durch die Wüste zu wandern und dazu Cowboystiefel zu tragen, deren Sohle ebenfalls Löcher in der Größe Westberlins hatten.
Doch der Westen war weit weg, die Mauer hoch und die Zeit noch nicht reif. Westberlin blieb ein weißer Fleck im Schulatlas, dort gab es einfach nichts, keine Straßen, keine Bäume, keine Eisenbahnlinien und wahrscheinlich auch keine Menschen. Es war ein Loch, das alles verschluckte, denn es fuhren ständig Autos, Busse und LKW in Richtung Grenzübergang, die man später nie wieder sah. Und scheinbar vermisste niemand diese Menschen.
Damit nicht noch mehr unschuldige Menschen im Bermuda-Dreieck in der Mitte dieses Landes verschwanden, baute die DDR einen Autobahn- und einen Eisenbahnring um Berlin. Die Autobahn hatte keinen Namen, doch die Ringbahn wurde großspurig „Sputnik“ genannt. Der ostdeutsche Sputnik war, im Gegensatz zu seinem Namensgeber, einem russischen Satelliten, dermaßen langsam, dass man für die Fahrt Falkensee – Berlin/Ostbahnhof fast drei Stunden brauchte und dazu auch genauso oft umsteigen musste. Vielleicht lag es daran, dass man sich entgegengesetzt des Uhrzeigersinns fortbewegte, denn in der anderen Richtung, zum Beispiel von Potsdam nach Berlin/Karlshorst, brauchte man nur etwa 150 Minuten.
Was sollte man machen? Besser schlecht gefahren als gut gelaufen – und so vertrödelte man halt wertvolle Lebenszeit auf holprigen Bahngleisen, was natürlich dadurch kompensiert wurde, dass man nicht Gefahr lief ins Große Nichts hinein gesaugt zu werden und wohlmöglich dort sein Leben unfreiwillig beenden musste.
Aber das alles wollte ich gar nicht erzählen, denn eigentlich wollte ich von einer Zeit berichten, in der sich Westberliner und Ostdeutsche noch dermaßen fremd waren, dass Außerirdische sie wahrscheinlich für zwei völlig verschiedene Rassen gehalten hätten. So fuhr ich Jahre später einmal die besagte Strecke von Falkensee nach Berlin. Mittlerweile hatte ich natürlich keine Angst mehr davor eingesogen zu werden und ich wusste natürlich auch, dass es dort Menschen gab, die so ähnlich aussahen wie wir, aber der Kontakt hielt sich natürlich leider in Grenzen.
Es war Abend, draußen war es dunkel, ich kam von einer Familienfeier und so versuchte ich einen Roman zu lesen. Zeit hatte ich ja genug, doch irgendwie kam ich nicht richtig hinein, weil mich etwas irritierte. Aus meinen Augenwinkeln sah ich einen Typen, der ständig auf seine Armbanduhr blickte, völlig hektisch von einem Fuß auf den anderen trat, als wenn er pinkeln müsse, der sich ständig verrenkte, Grimassen zog und nun sogar damit begann Selbstgespräche zu führen. Der Typ war mir irgendwie unheimlich. Er sah zwar äußerlich ganz normal aus, aber er hatte komische Klamotten an. So etwas hatte ich noch nie zuvor gesehen. Es konnte sich eigentlich nur um einen Flüchtling aus der Irrenanstalt in Brandenburg handeln, der versuchte zu fliehen, doch ich beschloss diese Erkenntnis für mich zu behalten und mich stattdessen mit dem ersten Kapitel meines Buches zu beschäftigen.
Keine zwei Minuten später tippte mich jemand an der Schulter an und ich zuckte zusammen. Es war der merkwürdige Typ. Ich wusste es!
„Sag mal, kennst du dich mit der Grenze und den Visa-Bestimmungen aus?“
War der Typ etwa von der Stasi oder wollte der mich bloß verarschen?
„Na ja, Polen ist zu, die ČSSR und Bulgarien sind frei, nach Rumänien will niemand und für Ungarn musst du das 6 Wochen vorher beantragen!“
Er nestelte an seiner Jackentasche nach einer Schachtel Zigaretten und hielt mir die Packung unter die Nase. Es war eine Schachtel Camel Filter.
„Nein, ich will zurück nach Westberlin!“
Ich nahm eine Zigarette und er gab mir umständlich Feuer. Sogar seine Hände zitterten. Ich glaubte diesem Typen kein Wort, auch wenn er noch so merkwürdig aussah. Kein Westberliner würde sich jemals in den Sputnik setzen. Wozu auch? Der fuhr ja schließlich nur außen am weißen Nichts vorbei. Doch scheinbar merkte er, dass ich ihm seine Herkunft nicht abnahm.
„Wie könnte ich dir denn helfen nach Westberlin zu kommen?“, fragte ich verwundert. „Ich war noch nie da. Und wie’s so aussieht werde ich wohl erst in 47 Jahren hinfahren können. Dann bin ich nämlich Rentner und brauche kein Visum!“
Er glotzte mich blöde an. Entweder war er wirklich in Brandenburg ausgebrochen, total verwirrt oder völlig besoffen. Aber er roch nicht sonderlich nach Alkohol, jedenfalls nicht wie jemand, der gerade aus der Kneipe kam.
„Ich hatte ein Tagesvisum. Hier!“ Er zog ein zerfetztes Stück Papier aus seinem Portemonnaie und hielt es mir hin. „Hier steht’s: Gültig am 17.November!“
„Ja, da haste ja noch mal Glück gehabt. Heute ist ja schon der 19.“
Der Typ war definitiv nicht ganz dicht.
„Wieso Glück? Ich bin zwei Tage drüber! Scheiße! Ich hab eine Freundin hier in Falkensee und da ging die Zeit zu schnell um!“
„Am besten du fährst zurück und bleibst noch die restlichen 363 Tage bei ihr. Dann ist wieder der 17. und du kannst ausreisen. Das fällt keiner Sau auf, echt! Oder du wartest 47 Jahre und ich komme mit.“
Ich hatte aufgeraucht und wollte weiter lesen, doch der Typ ließ einfach nicht locker. Ich konnte ihn ja auch irgendwie verstehen, aber was sollte ich denn tun? Ich, der von Potsdam nach Berlin knapp drei Stunden unterwegs war?
„Scheiße, Scheiße, Scheiße! Das ist mir vor ein paar Monaten schon mal passiert. Da haben die Ostbullen mich fast vier Stunden lang verhört und über irgendwelche Leute ausgefragt, die ich gar nicht kannte. Ich habe denen dann irgendwelchen Mist erzählt. Wenn ich jetzt schon wieder zu spät komme, gibt es richtig Ärger.“
„Ach Gottchen! Mein Mitleid ist irgendwie begrenzt, Alter! Mein Opa ist vor zwei Monaten gestorben und ich durfte nicht einmal zu seiner Beerdigung, zwei meiner besten Schulkumpels sind geflüchtet und die kann ich von nun an vielleicht einmal im Jahr im Sommer in Budapest treffen – wenn ich denn ein Visum bekomme. Ansonsten halt in 47 Jahren. Und da hast du Schiss vor der Grenze? Mit deinem Westpass? Wir können ja tauschen!“ Aus Spaß zog ich an seinem Pass, doch da geriet der Typ plötzlich in Panik. „Oh Mann, ist ja gut! Das sollte ein Scherz sein. Bleib mal locker. Wie heißt du denn überhaupt?“
„Karsten!“
„Nee!“
„Wieso nee? Ich muss doch wissen wie ich heiße.“
„Karsten heißen nur Ostler!“
Ich nahm wieder mein Buch und versuchte es noch einmal von vorn. Karsten sagte nichts mehr, nur ab und zu hielt er mir eine Camel hin und wir rauchten schweigend. Was sollte ich denn auch sagen?
Doch plötzlich ist es schon zehn nach elf Und sie sagt: Ey, du musst ja spätestens um zwölf wieder drüben sein Sonst gibt’s die größten Nervereien Denn du hast ja nur ’n Tagesschein
Wir ruckelten weiter durch die Nacht, hielten in irgendwelchen Nestern wie Hohen Neuendorf und Mühlenbeck, warteten ewig auf Anschlusszüge und sahen Schichtarbeiter kommen und gehen. Dann endlich kamen die Lichter von Berlin in Sicht und Karsten wurde unruhig.
„Wohnst du eigentlich weit weg von der Grenze?“, fragte er mich plötzlich.
„Kommt darauf an. Im Prenzlauer Berg, da gibt es die Bornholmer Brücke. Da ist ein Grenzübergang.“
„Ich muss aber Friedrichstraße wieder rüber. Gibt es im Prenzlauer Berg Kneipen, die noch auf haben? Ich lade dich ein! Ich muss mir jetzt ja auch erst mal eine Ausrede für die Bullen einfallen lassen. Da hilft Alkohol ungemein. Vielleicht komme ich einfach dermaßen voll an der Grenze an, dass ich zu keiner Bewegung mehr fähig bin. Das wird wohl das Beste sein“
Das klang zumindest nach einem Plan. Ich musste überlegen. Es gab zwar viele Kneipen, aber ob man dort so einfach hinein kam, stand auf einem ganz anderen Blatt.
„Ja, wir können es ja mal im Anker probieren. Das ist auch nicht so weit.“
Wir fuhren mit der U-Bahn vom Alexanderplatz zur Schönhauser Allee. So langsam wurde mir der Typ auch sympathisch und eigentlich war mir auch völlig Wurst, ob seine Geschichte stimmte oder nicht. Er hatte mich eingeladen und da wollte ich mal nicht so sein.
Vor der Tür der Kneipe standen bereits ein paar Leute und warteten auf Einlass. Es war immer dasselbe, denn die Wohnungen waren klein, der Gesprächsbedarf groß und Alkohol billig. Ich wollte schon abwinken, da drängelte sich Karsten nach vorn, zog mich an der Hand mit sich und sprach den Einlasser an, der vorn an der Tür stand und die Leute platzieren wollte.
„Wir haben einen Termin mit Doktor Hübner!“, sprach er, drückte dem Typen einen Zehner West in die Hand und ging, ohne eine Antwort abzuwarten, schnurstracks durch die Menge. „Wir nehmen den Tisch da hinten, Chef!“
Wir hatten uns kaum gesetzt, da kam auch schon die Bedienung und fragte nach unseren Wünschen. Karsten orderte Curacao Blue, einen widerlichen Likör, der aber immerhin teuer war.
„Bringen sie am besten gleich für jeden zwei, das dauert hier ja eine Weile, nicht? Und was zum Nachspülen, zwei große Bier bitte!“
Es war eine merkwürdige Mischung, die Kopfschmerzen versprach, aber ich wollte dem Gastgeber auch keine Vorschriften machen. Ich hatte es schließlich auch nicht besonders weit bis nach Hause. Nach der ersten Runde lud er den Nachbartisch ein, drei Typen, die ich vom Sehen her kannte. Wir schwenkten auf Kirschlikör um, später auf Kümmel und Nordhäuser Doppelkorn und blieben anschließend bei Wodka hängen. Dann orderte Karsten eine Flasche Sekt. Langsam wurde es wirklich schwierig zusammenhängende Sätze zu formulieren.
„Was mach’isch‘n jetze mit diesem beschiss’n Tagesschein?“, glotzte Karsten schließlich in die Runde. „Kann ener von eusch die Uhr erkennen?“
Es war kurz nach Mitternacht und damit schon der 20. des Monats. Jetzt konnte es Karsten eigentlich auch scheißegal sein. Er griff ins Portemonaie, zog den zerfletterten Passierschein hervor und stopfte sich das Ding in den Mund. Dann nahm er einen großen Schluck Bier, um sein Dokument herunterzuspülen.
„Alle juten Dinge sind drei! Auf die drei Tage! Prooohooost Männer! Schön euch kenn‘jelernt su haben! Der Ost‘n ist janich so schlecht wie ick dachte, Curatschau, allet da! …aba ick gloob mir is schlecht. Ick muss mal kotzen.“ Karsten wankte wie bei Orkanstärke in Richtung Klo und kam nach zehn Minuten kreidebleich zurück. „Ick muss nach Hause! Jib’s hia Taxis? Könnta mir eens besorgen?“
Wir versprachen ihm ein Taxi zu besorgen, während er die Zeche bei der Kellnerin mit einem 50 DM-Schein bezahlte. Karsten versuchte die Form zu wahren um das Ganze möglichst im Verborgenen abzuwickeln, aber der ganze Laden sah dabei zu.
„Ey, ick kann ooch wechseln!“ oder „Ich biete 1:6!“ kam es aus der einen oder anderen Ecke und alles lachte. Wir mussten hier dringendst verschwinden. Wir packten Karsten unter den Armen und schleiften ihn bis zur Schönhauser Allee, wo wir ein Taxi anhalten wollten. Ich hielt den Daumen raus und kurz darauf hielt ein Trabant.
„Kannste den hier in die Friedrichstraße bringen? Es gibt auch Westgeld!“ Der Trabantfahrer nickte und öffnete die Tür. „Ist leider etwas schwierig…!“
Doch beim Anblick des Trabant verlor Karsten die Fassung.
„Ihr wolltet mir doch’n Taxi rufen. Ditt is keen Taxi!“
„Doch, hier im Osten kriegst du nicht so einfach ein Taxi. Das ist ein Schwarztaxi!“
„Ihr wollt mich entführen! Der is vonna Stasi! Ihr wollt mich umbring‘!“
So langsam wurde es anstrengend mit Karsten. Wir versuchten ihn zu dritt in das kleine Auto zu wuchten, doch er machte sich steif und fing plötzlich an zu schreien.
„Hilfe! Hilfe! Ich werde überfallen!“
Jetzt bekam es auch der Schwarztaxifahrer mit der Angst zu tun und wollte abhauen. Ich hielt ihn fest, währenddessen meine neuen Kneipenfreunde mit Karsten kämpften und ihn niederrangen. Dann sahen wir aus der Ferne einen Polizeiwagen langsam die Schönhauser Allee herunterkommen und Karsten begann wieder zu schreien.
„Hilfe! Hilfe! Die überfallen mich!“
„Mann Alter! Jetzt reicht es aber! Hör auf hier herumzuschreien, sonst kannst du auch mit denen mitfahren, das ist dann umsonst.“
Es half alles nichts, Karsten hörte zwar auf zu schreien, doch er sperrte sich immer noch gegen seine Mitfahrgelegenheit. Da zog ihm der Trabantfahrer plötzlich von hinten die Beine weg, öffnete mit einer Hand die Beifahrertür und wir schubsten den überraschten Karsten hinein, bevor die Bullen an uns vorüberfuhren.
„Mann, zwanzig Jahre Judo. Endlich konnte ich mal was gebrauchen!“
Ich zog Karsten einen Zwanziger aus der Tasche und gab ihm den Taxifahrer.
„Hier! Gefahrenzulage!“
Dann ging es mit dem Trabant wieder zurück in Richtung des großen, weißen Loches inmitten der kleinen DDR, wo Menschen früher manchmal ganz spurlos verschwanden.
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