Wie Howard Carpendale seine Mission doch noch erfüllte

Nimm den nächsten Zug – Howard Carpendale (Nimm den nächsten Zug/1977)
Für immer und dich – Rio Reiser (Rio I/1986)
I.L.D. – Rockhaus (I.L.D./1988)
Der Traum ist aus – Ton Steine Scherben (Keine Macht für Niemand/1972)

Silke Hochstätter, ich weiß es noch ganz genau. Wie könnte ich diesen Namen je vergessen? Sie saß zwei Bankreihen vor mir und es verging kaum eine Unterrichtsstunde, in der ich nicht ununterbrochen von hinten auf ihre blonden Zöpfe starren musste. Sie reichten ihr bis zu den Hüften und ich träumte so manches Mal davon, dass ich auf einem Pferd an ihrem Burgverließ vorbeiritt und so lange rief, bis sie mir ihre Zöpfe hinunterwarf und ich sie aus ihrem Gefängnis befreien konnte. Ich schämte mich zwar dafür, in der 4.Klasse noch von Rapunzel zu träumen, aber es wusste ja niemand. Was aber alle wussten war die Tatsache, dass ich in Silke Hochstätter verliebt war. Alle wussten es, meine ganze Klasse, meine ganze Schule, wahrscheinlich ganz Potsdam – bis auf Silke Hochstätter natürlich. Es war zum Verzweifeln, denn sie liebte meinen Banknachbarn Mike Lorenz und nur deshalb drehte sie sich hin und wieder zu uns um und blickte vermeintlich in meine Richtung.
Es machte alles keinen Sinn. Ich hatte in meiner Not sogar schon versucht, ihre Liebe bei Mike gegen meinen neuen, feuerroten Mercury Cougar einzutauschen, doch Mike verlangte obendrauf auch noch den Datsun mit den gefederte Achsen, bei dem sich die Türen nach oben öffnen ließen. Niemals! Der Datsun war mein Lieblingsmatchbox!
Eines schönen Tages im Frühjahr, es muss ein Montag gewesen sein, da samstagabends immer die ZDF Hitparade mit Dieter Thomas Heck lief, passierte es dann: Silke träumte wie immer mit offenen Augen im Unterricht, bis unsere Klassenlehrerin Frau Meinke genug hatte und sie an die Tafel rief. Doch Silke war weit weg und hörte sie nicht. Da wurde Frau Meinke laut.
„Fräulein Hochstätter! Worum ging es hier denn gerade?“
Der Abschied aus Silkes Traumwelt dauerte lange, man sah es ihr an.
„Verzeihung, isch hab gerade nisch so rischtisch zugehört!“
Mike und ich starrten uns fassungslos an.
„Sag mal, kaust du Kaugummi während des Unterrichts? Ich glaub es doch wohl nicht!“
Unsere Klassenlehrerin wurde wütend, was nicht oft vorkam.
„Nein, isch hab keinen Kaugummi!“
Silkes Gesichtsfarbe veränderte sich rasant, bis sie schließlich die Farbe einer überreifen Tomate annahm.
„Na, dann kannst du uns an der Tafel sicherlich den Unterschied zwischen einem Zylinder und einem Kegel erklären!“
Silke erhob sich zögerlich, ging an die Tafel und stand, mit einem Stück Kreide in der Hand, ratlos da.
„Na? Wir haben heute noch etwas anderes vor!“
Frau Meinke schaute in Erwartung des Klingelzeichens nervös auf ihre Armbanduhr, doch das Pausenklingeln hatte heute kein Mitleid mit Silke Hochstetter.
„Isch kann das wirklisch nisch!“
Die ganze Klasse begann plötzlich laut zu lachen und jetzt ging auch Frau Meinke ein Licht auf.
„Sag mal, Silke, guckt ihr bei euch zu Hause etwa Westfernsehen?“
Silke schüttelte ihren roten Kopf und schaute nervös in die Reihen.
„Bist du dir da ganz sicher?“, bohrte Frau Meinke weiter.
Silke zierte sich und wand sich wie ein Fisch an der Angel.
„Na ja, nur manchmal. Nur wenn Hitparade kommt, ehrlisch!“
Das war natürlich ein Schlag ins Gesicht. All meine Hoffnungen auf Silke hatten sich in dieser Sekunde in Luft aufgelöst, denn Silke Hochstätter hatte sich am Wochenende ganz offensichtlich in Howard Carpendale verliebt. Der gehörnte Mike schaute mich blöde an, doch ich zuckte nur mit den Schultern und war froh, dass ich meine Matchbox  für diese unsichere Kandidatin nicht hergegeben hatte. Ich hatte Silke Hochstätter in dieser Sekunde für immer aus meinem Leben gestrichen!

Und darum nimm den näschten Zug und komm zurück zu mir
Isch hab jetzt ein andres Bild von dir
Was du wirklisch willst und wie du wirklisch fühlst
Jetzt weiß isch’s!

Ich hatte nicht daran geglaubt, dass diese Art Dialekt irgendwann noch einmal Thema werden würde, denn inzwischen waren mehr als 13 Jahre vergangen. Howard Carpendale verzauberte mit seinem Gesang zwar immer noch die Damenwelt, aber seine Zielgruppe lag jetzt eher bei den Mittvierzigerinnen. Meine Welt und die Welt des Howard Carpendale hatten somit keinerlei Berührungspunkte mehr. Howard würde es niemals gelingen, mit seinem mehr als merkwürdigen Idiom den Berliner Dialekt erneut ins Wanken zu bringen. Das hatte schon Kennedy mit seinem Isch bin ajin Berliner auf der anderen Seite der Mauer vergeblich versucht, da konnte ein südafrikanischer Schlagerheini wohl kaum punkten. Dachte ich jedenfalls.
Im Spätsommer 1988 trieb es mich, wahrscheinlich aus nostalgischen Gründen, in den Kulturpark Berlin in den Treptower Park. Vielleicht lag es auch einfach daran, dass ich Durst hatte und die Sonne schien, eine Kombination, die viele Berliner in die Biergärten treibt. Früher, Anfang der Achtziger, gab es hier einen solchen, damals war der Kulti ein angesagter Hippietreffpunkt, den man sich so nach und nach mit den Punks teilte. Es gab sogar eine Freilichtbühne, auf der ab und an ein paar unserer Helden auftreten durften. Natürlich gab es billiges Bier aus riesigen Gläsern und wenn es regnete, gab es auch einen Saal in der Nähe, in dem passable Musik gespielt wurde. Doch das war alles Schnee von gestern, Hippiekonzerte gab es hier schon lange nicht mehr und die Diskothek war vor Jahren schon abgebrannt.
Aber es fanden immer noch Konzerte statt. Heute spielte zufällig die Berliner Band Rockhaus. Die Musik von Rockhaus war eine Art New Wave mit deutschen Texten und die Band trug genau die furchtbaren Frisuren, welche bei den Ostmusikern zur Zeit angesagt waren, jedenfalls bei denen, die es in die Jugendsendungen des Ost-Fernsehen geschafft hatten. Damals gab es den Begriff des Fremdschämens noch gar nicht, aber genau das taten wir beim Anblick dieser Gestalten. Außerdem trugen sie bunte Glitzertücher um den Kopf und es fehlte nur noch, dass sie „99 Luftballons“ coverten.
Ich hasste Ostmusik zutiefst, denn wer Ende der Achtziger Zeit noch kein Spielverbot hatte, war meiner Meinung nach entweder total angepasst oder arbeitete selbst für die Stasi. Doch die Sonne schien, das Bier schmeckte hervorragend und so verstieß ich gegen den Hippieehrenkodex, die Musik einfach zu ignorieren, denn schließlich war der Eintritt kostenlos. Es war ja nur Musik, sollte man meinen. Ich war überrascht, denn von der Optik mal ganz abgesehen, konnte man die Songs sogar fast für gut durchgehen lassen. Leider war bei den Texten eine sehr deutliche Nähe zu Herrn Carpendale auszumachen. Ja, es kam mir fast so vor, als hätte Howard Carpendale die Texte für Rockhaus geschrieben.
Nun bereute ich mein Kommen und hatte genug, doch genau in diesem Moment holte die Gruppe Rockhaus zum Rundumschlag aus und spielten ihren Singlehit.

Isch, isch liebe disch
Isch, isch brauche disch
Isch, isch will, will disch

Plötzlich ging mir ein Licht auf. Es konnte gar nicht anders sein: Howard hatte die Strategie geändert. Er musste gar nicht mehr mit Hilfe von Dieter Thomas Heck und dem ZDF seine finstere Botschaft nach Ostdeutschland tragen, nein, er war schon einen Schritt weiter und hatte seine Erfüllungsgehilfen nun direkt vor Ort. Und da musste ich zum ersten Mal nach über 13 Jahren wieder an Silke Hochstätter denken. Hatte Howard Carpendale am Ende doch Recht behalten? Wie weit musste die Howardcarpendalisierung der Hauptstadt schon fortgeschritten sein, wenn jetzt selbst diese Piesepampel, die angeblich aus Berlin waren, mit Howies Sprachfehler Erfolg hatten? Seit wann sagt der Berliner isch? Ditt heißt nach wie vor ICKE! ICK GLOOBS EINACH NICH!!!

Ein Jahr später kam die Wende und ich hatte andere Probleme, als mich mit Howard Carpendale zu beschäftigen. Rockhaus wahrscheinlich auch, denn ihr Erfolg war mit dem Ende der DDR ebenfalls beendet. Nicht, dass man mit blöden Texten nun nicht mehr erfolgreich sein konnte, aber nun holten sich die Leute ihre Portion Schwachsinn lieber direkt im Westen ab. Warum auch immer.
Howies Einfluss war mit der Zeit kaum mehr spürbar, waren inzwischen doch wieder ein paar Jahre ins Land gegangen. Auch bei seiner Zielgruppe dürfte die Zeit nicht stehen geblieben sein, mit Mittfünfzigerinnen im Gepäck war da sicherlich kein Blumentopf mehr zu gewinnen. Howies Stern sank rapide und er war mit seinem Ziel, Berlin mit seinem in Jahrhunderten gewachsenem Dialekt der Lächerlichkeit preiszugeben, grandios gescheitert. Herr Carpendale orientierte sich in den 90ern mit seinen Chartplazierungen nur noch am Alter seiner Liebhaberinnen und zog sich 2003 endgültig ins Privatleben zurück. Ein paar Monate später bekam der Herr Missionar den Echo fürs Lebenswerk, zwar ausgerechnet in der Stadt seines schändlichsten Tuns, was aber hierzulande eher als ein sicheres Indiz für das endgültige Scheitern seiner Pläne interpretiert worden ist.

Berlin atmete auf, doch der Friede war nur von kurzer Dauer. Wer geglaubt hatte, Howard Carpendale hätte sich aufs Altenteil zurückgezogen, der wurde nun eines Besseren belehrt. Wir hatten die Vorzeichen einfach ignoriert. Rockhaus hatten sich inzwischen wiedervereinigt und das Zentrum von Berlin war längst in die Hände der Zugezogenen gefallen Die Latte Macciato-Front verlief nun bereits jenseits der Bezirke Treptow und Lichtenberg und innerhalb von Prenzlauer Berg und Friedrichshain getraute sich niemand der Einheimischen mehr, beim Bäcker eine Schrüppe zu bestellen, was beim schwäbischen Gegenüber nur ein Achselzucken zur Folge hatte. Wir sind Fremde im eigenen Land und welche Schmach es bedeutet, als Berliner beim Bäcker einen Berliner bestellen zu müssen, anstatt einen Pfannkuchen wie sich das gehört – das kann nur der Berliner selbst nachvollziehen.
Howard Carpendale hatte sein Werk fast vollendet. Er war wieder auferstanden wie einst Jesus Christus, nur dass er sich die Himmelfahrt noch aufsparte. Howard will uns noch eine Weile leiden sehen. Sein Werk unvollendet lassen durfte nur Beethoven, aber der war ja quasi gesundheitlich gehandicapt. Herr Carpendale ist da als Sportskanone aus ganz anderem Holz geschnitzt. Und in welchem Maße sollte sich bald herausstellen.
Im Frühjahr 2010 hatte ich mal wieder Langeweile, blätterte lustlos in einem Veranstaltungsmagazin und entdeckte eher zufällig, dass Jan Plewka an diesem Abend im Kesselhaus Lieder von Rio Reiser zum Besten geben wollte. Ich hatte zwar nicht wirklich Lust auf einen Nostalgieabend, aber ich mochte Plewkas Band Selig und entschied mich hinzugehen. Der Abend ging gut los, es gab leckeren, trockenen Rotwein, gute Sicht von der Bar auf die Bühne und ein paar Meter vor mir feierten ein paar lustige Damen sich selbst und kommentierten jedes Lied lautstark.
„Macht kaputt watt euch kaputt macht!“
„Wie jetzte? Ditt Glas is doch noch voll!“
„Ick mein dich doch nich, du Knalltüte! Ick mein den da oben!“
„Oll reit. Prohooost!“
Sie kamen eindeutig aus Berlin, wie ihr Dialekt verriet und ich fühlte mich plötzlich irgendwie geborgen, denn alles war irgendwie wie früher. Im Kesselhaus, inmitten der neuen Bionade- und Schwabenhochburg gelegen, wurde also doch noch ordentlich berlinert, dazu stand ein Sänger auf der Bühne, der offensichtlich aus dem Norden kam, einer Gegend, die für ihre Ignoranz gegenüber Neuem bekannt ist. Es hätte alles so schön sein können, bis Herr Plewka plötzlich Rios „Für immer und Dich“ anstimmte und die rotweinseligen Damen, kaum hörbar erst, leise zu nuscheln begannen.

Isch sing für disch, isch schrei für disch
Isch brenne und isch schnei für disch
Vergesse misch, erinner misch
Für disch und immer für disch
Für immer und disch

Ich ahnte ein Desaster. Da hatte man sich in trügerischer Sicherheit gewähnt und alles schon vergessen und verziehen, nun musste man plötzlich erstaunt feststellen, dass man sich stattdessen direkt im Auge des Hurricans befand. Doch das war erst der Anfang, denn nun folgte der Refrain und die Damen schalteten ein paar Gänge hoch.

Für disch, für immer und disch!

Ich hatte genug und wie zum Hohn stimmte Herr Plewka kurz danach einen alten Ton Steine Scherben-Klassiker an, der meine Verzweiflung auf den Punkt brachte.

Der Traum ist aus! Der Traum ist aus!
Aber ich werde alles geben, dass er Wirklichkeit wird!

Ohne mich, Freunde. Howard Carpendale hat gewonnen! Und schließlich will ich mir nicht nachsagen lassen, ich hätte mich damals umsonst von Silke Hochstätter getrennt…

2 Kommentare
  1. zahni sagte:

    grandiose geschichte! dein schreibstil gefällt mir sehr.beim lesen,sah ich alles genau vor mir ablaufen, wie in einem spielfilm.drehbücher könnten glatt dein ding sein, aber das kannste ja selbst am besten beurteilen.

    Antworten

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