Wir waren 28… oder so – von Susanne Jennrich

7.Kapitel: 2002 – Die Lebensbeichte

Ein Erlebnisbericht

Endlich! Endlich ist es soweit. Es ist der 13. Dezember 2002 und das InEx-Konzert beginnt in ein paar Stunden. Ich stehe vor dem Spiegel und lege letzte Hand an mein Outfit, als ich höre, wie mein Vater und mein Bruder nach Hause kommen.
„Na Kleine, schon fertig?“, ruft mein Bruder.
„Ja, wollen wir noch was essen?“
„Ja, ich komme gleich dazu.“
Mein Vater schaut mich grinsend an, als ich die Treppe hinunter stürze, auf meinem Bruder zu, um ihn zu begrüßen (wir haben uns seit dem Sommer nicht mehr gesehen).
„Wie, so willst Du zu dem Konzert? Dirk, guck mal, ob das erlaubt ist!“
„Nö, kannst Du gleich wieder ausziehen!“
„Pech, wenn Du mich so nicht mitnimmst, die anderen Männer bestimmt!“
„Alles klar!“
Wir grinsen uns gegenseitig an. Unser Vater drängt zu Eile, er will uns in den Nachbarort bringen, wo wir uns mit den Anderen treffen, insgesamt fahren so 28 Leute mit, um gemeinsam mit dem Bus nach Hardenberg zu fahren.
„Vattern, wir haben erst 18.20 Uhr, nach Schüttorf fahren wir 10 Minuten, wir können also noch ganz in Ruhe essen. Wir treffen uns erst um 19.00 Uhr.“
Ich fange schon mal an den Tisch zu decken, während mein Bruder sich eben in andere Klamotten schmeißt.
Schnell gegessen, denn Vater drängt weiterhin. Also die Jacken angezogen, Muttern kommt nach Hause.
„Nö, ihr könnt noch nicht gehen, ich will erst Sannes Outfit sehen“, also wieder aus der Jacke raus, „Oh oh, was hast Du denn noch vor?“
„Jetzt erst mal fahren, sonst komme ich gar nicht mehr über“, und rein ins Auto. Dirk steigt auch ein, da entdeckt unser Vater seine dreckigen Springerstiefel.
„Was, mit solch dreckigen Schuhen willst Du los? Die hättest Du ja wenigstens noch eben putzen können“ Unisono klingt es zurück:
„Das ist bei so einem Konzert total egal, da achtet keiner drauf, das stört auch keinen.“ „Doch mich stört das…“ Kichern.
„Ist okay, Paps.“
Wir sind gerade noch pünktlich. Der Heavy hat schon die Uhr im Visier und begrüßt jeden mit
„Ihr seid zu spät…“.
„Nö, noch nicht, eher super pünktlich!“
Dann fängt er noch glatt an, die Namensliste vorzulesen. Alle sind da. Also nehmen immer zwei Männer eine Kiste Pils oder Alt zwischen sich und wir trotten zu dem Treffpunkt mit unserem Bus. Ich springe noch zwischen meinem Bruder und Teddy hin und her, weil ich kein Geld für Zichten habe, aber Teddy rettet mich. André, der mit Tüte eine Kiste trägt, fängt an zu lamentieren:
„Warum tragen eigentlich immer die Männer die Kisten? Es sind doch genug Frauen dabei…!“ In dem Moment entdeckt er, dass ich direkt vor ihm laufe. „Oops, da ist ja eine…“
„Kein Problem, hast Glück, dass ich friedliebend bin.“
Tüte findet, André kann ruhig Schläge gebrauchen, also verspreche ich, es mir für später zu merken. Es ist schweinekalt, wir frieren, das Bier ist fast noch wärmer als die Luft.
„Was kommt da eigentlich für ein Bus?“
„Keine Ahnung, der kommt aus Emsbüren, der war billig.“ antwortet Heavy.
„Da kommt er übrigens…“
„Nee, Heavy, das ist ein LKW.“
Kichern von allen Seiten, denn der LKW hat nur eine offene Ladefläche.
„Hihi, da legen wir uns alle drauf und dann werden wir festgebunden…“ und ähnlich Sprüche kommen. Heavy hat einen Heidenspaß über das Ganze wegzubrüllen
„Was wollt ihr, der war billig!“
Der Bus kommt, ein alter Linienbus, aber was soll’s.
Als wir einsteigen wollen, drängeln sich alle durch die hintere Tür. Nicole guckt mich an und sagt:
„Diese Kinder!!! Und mein Kerl ist ganz vorne mit dabei…!“
Im Bus komme ich so langsam hinter die ganzen Spitznamen, es klingt fast wie bei der Bullyparade: Moped, Psycho, Tüte, Heavy, Teddy…. Einige sind noch ganz schön jung. Oder es kommt mir nur so vor, weil ich schon über dreißig bin? Heavy hat wieder seinen „Sohn“ dabei, der ist erst 16. Andere sind erst 19, aber das erfahre ich erst im Podium, als wir schon unsere ersten holländischen Biere trinken. Die Busfahrt ist lustig, alle sind gut drauf, jeder erzählt irgendwelche skurrilen Geschichten und auch die ersten dreckigen Witze machen die Runde. Die obligatorischen Sprüche „Wann sind wir endlich daaa?“, „Ist es noch weeiit?“ und „Ich muss mal dringend auf Klo!“ werden mit Begeisterung immer wieder gerufen.  Dann hält der Bus tatsächlich an, Pinkelpause. Als wir weiterfahren, kommen wir innerhalb von 2 Minuten an ein Schild: Hardenberg, 3 km. Ich muss grinsen, das hätten die Männer auch noch aushalten können. Was sollen wir Frauen denn machen? Es sind sogar weniger als 3 km, denn das Podium liegt am Rand von Hardenberg, direkt an der Straße, die wir hinunterfahren.
Mist, erst 20.30 Uhr. Ich hatte vor ein paar Wochen mal angerufen, wann denn Einlass ist usw. (durch meine Mutter kann ich fließend holländisch), wir kommen erst um 21.00 Uhr in den Saal. Das halte ich aber nicht mehr aus (Bier treibt…), also grinse ich meinen Bruder an:
„Mal sehen, ob mein Holländisch mir weiterhilft.“
Dirk grinst zurück. Gemeinsam gehen wir an die Tür. Ich linse hinein und klimpere ein paar Mal nett mit den Wimpern und tatsächlich kommt jemand an die Tür.
„Mogen wij mischien all binnen?“ (Dürfen wir vielleicht schon rein?) frage ich.
„Nee, ze zijn nog an het soundchecken.“
„Nou goed, dus ze zijn er all.“ (Okay, also sind sie schon da.)
„Ja, natürlich.“
„Dürfen die Mädels vielleicht schon rein?“
„Nee, es gibt keine Ausnahmen, alle oder keiner.“
„Aber wir können nicht einfach in die Büsche gehen, wenn wir müssen…“
„Also nur schnell auf Klo?“
„Ja.“ „Ist es dringend?“
„Ja!“
„Dann aber schnell.“
Und schon bin ich drinnen. Mein Bruder dreht sich um, um wieder zum Bus zu gehen, da schaut er in ein ratloses Gesicht.
„Hast Du das verstanden? Ich kein Wort.“, wird er gefragt.

„Hey Nibbi, wo ist denn Deine Schwester?“, klingt es ihm im Bus entgegen.
„Die ist schon drinnen und trinkt mit der Band ihr erstes Bier.“
Schön wär’s. Ich drücke mich nach dem Toilettenbesuch in der Lobby rum, weiter darf ich nicht. Dafür bekomme ich aber einen Kaffee angeboten und sitze mit dem Personal von heute Abend zusammen. Der Typ der mich reingelassen hat kommt auch dazu, es ist der Chef.
„Was machst Du denn noch hier? Du solltest doch gleich wieder raus!“
Ich zucke mit den Schultern und das Mädel, das mir den Kaffee gegeben hat, antwortet:
„Du kannst sie doch nicht wieder rausschicken…“
„Doch, das war so abgesprochen. Wer ist das überhaupt?“
Sie schaut mich an
„Wie heißt Du?“
„Susanne.“
„Das ist Susanne.“
Also bleibe ich. Erst als der Einlass beginnt, muss ich mit an die Tür, darf aber im Vorraum bleiben und mich in die Schlange reindrängeln. Und da stehe ich jetzt, komme nicht weiter, weil die anderen noch im Bus sind und wir keine Karten sondern nur einen Schein mit der Vorbestellung haben. Endlich kommt Dirk, wir holen die Karten, bringen sie zum Bus, lassen meine Jacke da und gehen gleich zurück. Der Chef (ich glaube er heißt Jan) sagt:
„Nou, je kunt ons ook niet kwijt, he?“ (Du kannst Dich wohl nicht von uns trennen?) Nö, jetzt noch nicht, der Abend hat noch nicht mal richtig begonnen.
Die ersten Biere machen die Runde und alle lästern über die holländischen Gläser (gerade mal 0,1 vielleicht etwas mehr). Aber es schmeckt. Ich erzähle allen, was ich in der Zwischenzeit gemacht und erfahren habe, es gibt keine Vorband und auch mit dem Feuer müssen sie vorsichtig sein. Das trübt die Stimmung aber nur kurz, es kann schon keiner mehr abwarten bis es losgeht. Emmel (kein Spitzname, sie ist Türkin), die eben erfahren hat, dass ich 32 bin  fragt den Zivi, wie alt er mich schätzt.
„26?“ „Make my day!!!“, quietsche ich ihm vergnügt entgegen.
Heute Abend kann jetzt nichts mehr schief gehen. Der Raum verdunkelt sich, es erklingen die ersten Töne, dann betreten sie nacheinander die Bühne, zuerst der Morgenstern, dann der Lange und Lutter, dann Flex, Yellow Pfeiffer und Dr. Pymonte und zum Schluss das letzte Einhorn.
Dann geht es ab, die sieben rocken so richtig los. Dirk und ich halten es nicht mehr auf unseren Plätzen direkt hinter dem Mischpult aus, also gehen wir auf die Tanzfläche, dort sind auch schon andere von uns. Das Einhorn begrüßt alle Anwesenden und hält auf einmal das Mikro in das Publikum vor der Bühne. Wir wundern uns schon, was da kommt und  dann fangen alle gleichzeitig an zu schreien und quietschen. Der Heavy muss mal wieder einen Kommentar ablassen. Das ist doch nicht wahr, oder? Aber so kennen und „lieben“ wir ihn.
Als ich es geschafft habe, das lange Ende von Kerl vor mir loszuwerden habe ich Platz und freien Blick auf die Bühne. Es ist einmalig. Mir geht es saugut. Alle um mich rum strecken immer wieder die Zungen raus, singen mit, klatschen mit, headbangen, grölen, schreien, tanzen, es ist geilgeilgeil. Meine Lieblingslieder werde alle gespielt, „Weiberfell“, „Der Wind“, „Vollmond“, „Spielmannsfluch“, „Die Gier“, fast zwei Stunden einfach loslassen, frei von allen Konventionen. Es gibt wenige Bands, die live viel besser klingen als auf CD. Es liegt bestimmt auch an dem Bild, was die Sieben abgeben. Die Show, die Kostüme, das Zusammenspiel, die Instrumente, das ist schon einmalig. Wir sind die ersten, die live das neue „Küss mich“ hören. Irgendwann schreie ich dem Zivi zu, dass ich auf jeden Fall noch nach ganz vorne möchte, da packt er einfach meine Schultern und schiebt mich bis an die Bühne, dort hören wir dann die letzten Lieder des Abends. Und sehen das Feuer. Yellow Pfeiffer und das Letzte Einhorn zeigen ein klein wenig von ihrem Können. Mehr war in dem kleinen Raum wohl nicht drin.
Und dann ist es vorbei. Das Einhorn sagt noch von der Bühne: „Vielleicht sehen wir uns ja nachher an der Bar auf ein Bier?“, da fangen die ersten aus unserer Gruppe schon an zu drängeln, der Bus wartet, wir müssten sonst extra bezahlen, blablabla. Dirk und ich haben noch ein paar Münzen für Getränke, die müssen natürlich noch aufgebraucht werden. Auch andere bleiben noch ruhig. Wir stehen in einer lockeren Runde zusammen und jeder stimmt immer wieder eines der gerade gehörten Lieder an, die anderen fallen mit ein. Keiner von uns mag loslassen in diesem Moment.
André, der eben noch auf seinen Geburtstag heute einen ausgegeben hat, versucht uns in Richtung Ausgang zu schubsen. Ich lege ihm den Arm um die Schulter und versuche ihn zu beruhigen:
„Komm, André, ist doch noch so schön hier, vielleicht kommen die Jungs ja auch noch, das willst Du doch nicht verpassen und wenn jeder von uns 1-2 Euro mehr bezahlt, dann können wir noch über eine Stunde länger bleiben.“
Aber er gibt nicht auf. Also trotten wir nach draußen, wir sind auch fast die letzten, nur der Heavy war noch am Imbiss und hat sich eine Pommes mit Satésauce geholt.
Die Busfahrt ist die Hölle. Hat der Busfahrer auf der Hinfahrt kaum gebremst und mindestens drei rote Ampeln überfahren, so bremst er jetzt die ganze Zeit und gibt direkt danach wieder Vollgas. Na ja, so beschissen wie er fährt, hätte er auch noch warten können, denn wir machen regelmäßig Pause und die Fahrt dauert fast doppelt so lang. Dafür singen wir auch kein Hoch auf unseren Busfahrer, was eigentlich geplant war. Selber schuld.
Eines steht fest, das war ein geiler Abend alles in allem, aber das nächste In Extremo- Konzert wird anders geplant. Dann fahre ich abends nirgendwo mehr hin, ich buche einfach ein Zimmer in der Nähe oder schlage ein Zelt auf. Oder fahre direkt mit einem Wohnmobil oder so, dann bin ich unabhängig und muss mich nicht dem Gruppenzwang fügen. Ich habe den Männern schon gesagt, wenn ich jemals erfahre, dass InEx tatsächlich noch an der Bar war, bevor sie weitergefahren sind und ich war nicht dabei, weil bestimmte Leute Panik gemacht haben, dann werde ich ungemütlich. Obwohl… die sind alle größer als ich. Und vielleicht laufen mir InEx in Berlin ja mal über den Weg, oder? Man soll die Hoffnung nicht aufgeben.
Ich hatte eine Menge Spaß und hätte diesen Abend auf keinen Fall verpassen wollen. Und bald ist wieder Sommer, dann gehen die Festivals wieder los und Dirk und ich sind wieder mit dabei. Und vielleicht sind wir ja irgendwann wieder 28?

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