Was zum Teufel ist eigentlich eine Frauenband? – von Leonhard Seitz

2. Kapitel: 1995 – 1997: In Ewigkeit: A -Moll

Oktober 1995, Frankfurt auf der Zeil, am frühen Abend beim Italiener. Mir gegenüber sitzt Micha Rhein. Damals mit schulterlangem naturbraunem Haar, was sich noch des Öfteren ändern sollte:“ Nee weest’e, Conny war hier, die macht ‘ne Weiberband auf, da mach ich mit.“ Auf meinen fassungslos stummen  fragenden Blick hin präzisierend: „Mit der Davul, schön Schwerterkiste, Puppenspiel, volles Programm, wa?“ Jetzt erst recht wortloses Staunen meinerseits.
Warum? Nun für mich gehörte Micha immer in die Abteilung „Pheromonsmog“.
Als 1989 das Hämmern der Mauerspechte durch die Republik schallte, wurde auch auf unseren Veranstaltungen bald eine neue Klangfarbe laut und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Zornige junge Männer mit gigantischen Dudelsäcken, den sogenannten A-Säcken waren allenthalben zu hören, für Ohren, welche die Sackpfeifergruppe der Nürnberger Schelmbart-Gesellschaft bereits als außergewöhnlich ekstatisch empfanden, eine wahre Höllenfahrt.  Ihre „Musik“ und die Art und Weise wie sie dargeboten wurde sorgte dafür, dass sich auch auf  Veranstaltungen von „Kramer Zunft und Kurtzweyl“ manches veränderte. Junge und auch nicht so junge Frauen, die in offensichtlich erotischer Ekstase ihre Unterleiber kreisend hin und her bewegten und auf einen Fingerzeig hin um die eigene Achse rotieren ließen, kannte man von Tristan und Elisabeths Auftritten nicht. Auch der Schwartenhals und Ony Wytars waren nie in  der Lage, ihr Publikum in solche Rage zu versetzen. Da war sie also, die Kluft zwischen den beiden Grundprinzipien: Die „verkaufsorientierte Familienveranstaltung mit kultureller Ausrichtung“ unter der Überschrift „Bürgerliches Mittelalter“ einerseits und andererseits festivalähnliche Zustände, die man  eben wohl am besten mit dem Schlagwort „Pheromonsmog“ beschreibt. Ich freilich war, schon im eigenen Interesse, glühender Verfechter der ersteren Variante.
Doch nun zurück zu unserem Gespräch in Frankfurt, denn immerhin saß ich Micha ja als Programmverantwortlicher (in unserem leicht größenwahnsinnigen Jargon „Kulturreferent“) von „Kramer Zunft und Kurtzweyl“ gegenüber. Michas damaliger Noch-Compagnon war bereits unter Vertrag bei einer sattsam bekannten Gruppe aus derselben Abteilung, erfüllte aber noch die alten Verpflichtungen. Conny, heute besser bekannt als die Rote Füchsin, hatte gerade den Spagat zwischen Ect Elior, freakig finnisch – balkanische Dissonanzen vor allem auch im zwischenmenschlichen Bereich und Anno Domini, hoch mittelalterliche Musik mit Carsten Woitcewicz, Lorena und Maxxx (ehemals Kurtzweyl) hinter sich. Sie war mir als nicht nur körperlich hervorragende Holzbläserin bekannt, dass sie Dudelsack spielt und zwar den gefürchteten „A-Sack“ war mir neu. Nun ja, offensichtlich hatten sich da zwei Suchende gefunden und die Idee einer Frauenband mit Micha als Perkussionisten fand ich zwar äußerst exotisch, aber durchaus interessant, wenn auch nicht wirklich im Sinne des „bürgerlichen Mittelalters“.
Pullarius Furcillo, also Micha und Teufel, gaben dann noch ihre Abschiedsvorstellung auf unserem Weihnachtsmarkt in Siegburg, die so manchem heute noch in leidvoller Erinnerung ist. Aber Disharmonie und sprichwörtliche Taktlosigkeit werden bei Musikern eben auch auf der Bühne hörbar. Im Januar erhielt ich dann einen Anruf von Conny, die mir, gegen meinen anfänglich erbitterten Widerstand, das neue Projekt In Extremo verkaufen wollte. Nun war schon keine Rede mehr von einer Frauenband, es ging um sie, Micha und „noch zwei Jungs  aus der Szene“. Über das Musikprogramm hinaus wurde noch eine Vielfalt von Zusatzleistungen angeboten und so kam es, dass sie engagiert wurden.
Die Beschreibung dieser Gruppe in unserem Programm las sich dann in unerbittlicher Konsequenz so: „Cornelia, die Königin der Spielleut weiß, von ihrem Thron herab, mit zarter Hand und doch in Strenge, das Regiment über ihre Gefährten zu halten. So erschallen Dudelsack, Zyster, Schalmeyen und allerley Schlagwerk. Auch die Fadenpuppen wissen sie zu führen, doch auf so derbe Art, dass Ihr besser den Kindlein Augen und Ohren verschließt. Da bleiben den Gaffern die Mäuler offen stehen, wenn Feuerstäbe durch die Lüfte wirbeln, das Feuerspucken zu zweyen tradieret wird und noch so manch ander Tausendkunst das Staunen nimmer enden lässt.“
Irgendwann im Winter trugen mir dann die Buschtrommeln zu, dass „die Königin der Spielleut“ schwanger ist. Auf meine besorgte Nachfrage hin beruhigte mich Conny, sie würde nur Schalmei spielen und das ginge. Immerhin, die Proben schritten munter voran. Was pränatale Prägung wirklich bedeutet erlebe ich heute am eigenen Leib. Denn „des Herren Pfade sind verschlungen“ und heute residiert jene Ausgeburt über meinem Schlafzimmer und so geschieht es immer wieder, dass mich ein markerschütterndes Trommelsolo aus dem wohlverdienten Schlaf reißt. Danke Micha!
Es kam wie es kommen musste. Connys Auftritte mit In Extremo bei KZK beschränkten sich auf den Eröffnungsumzug am 1. Mai, dann musste sie ins Krankenhaus. Übrig blieben „die Jungs“: Dies war dann die Zeit als Micha seine Haartracht wechselte wie andere Leute ihre Oberhemden. Pymontes Oberkörper war noch überwiegend hautfarben und Flex, ja, das war ein freundlicher junger Mann, der gerade von der Artistenschule kam und dies beim Tavernenspiel beeindruckend zeigte. Nicht umsonst trug er den Beinamen “der Biegsame“.
Micha fuhr die Märkte mit benzinvernichtenden amerikanischen Straßenkreuzern aus den Siebzigern an. Abends ließ er sich öfters mitnehmen und sah dann am nächsten Morgen entsprechend mitgenommen aus, nicht zuletzt weil er getreu dem Motto „Sekt oder Selters“ entschieden zu Ersterem tendierte. Im Gegensatz dazu war Pymonte sehr ruhig, ja in sich gekehrt, schlief meistens im Straßenkreuzer und Flex in der Jugendherberge. Ab und an trafen wir beide uns bei Mac Donalds  zum Frühstück und hatten dann sehr angenehme Gespräche.
Die Zusammenarbeit mit ihnen war äußerst unkompliziert. Sie waren und sind es heute noch unprätentiös und sehr kollegial. Wie sehr zeigt wohl die Tatsache, dass sie Conny in diesem ersten Jahr nach Kräften finanziell unterstützten. Ein Aufschrei der Empörung ging durchs Marktvolk, als sie ihre Blues Brothers-Sonnenbrillen aufsetzten und „We will rock you“ auf dem Dudelsack spielten. „Wehret den Anfängen!!!“ – und wirklich: Dies war ein Hinweis darauf, welche Richtung das Ganze nehmen würde. Den Druck, den ich als Programmverantwortlicher bekam, gab ich aber nicht wirklich weiter, dazu war die Zusammenarbeit zu angenehm. Abgesehen davon hätte es wohl auch nichts genützt.
Aber eines gab es  eben auch hier: Den „Pheromonsmog“. Nun weiß selbst ich endlich um die tiefere Bedeutung des Wortes „Frauenband“!
(Leonhard Seitz, Programmverantwortlicher bei „Kramer Zunft und Kurtzweyl“)

Bis auf das ständige Proben passierte erst einmal noch nicht allzu viel, doch schon nach den ersten fertiggestellten Songs wussten wir, dass es sich auf jeden Fall lohnen würde, weiter am Ball zu bleiben. Eines Tages wurde uns dann auch ein gewisser Sen Pusterbalg vorgestellt, unser neues Bandmitglied. Na wenn es denn so ist? Sen stammte aus der Nähe von Oldenburg und war eigentlich auch ein netter Typ, doch so richtig konnte ich ihn mir nicht in einer Rockband vorstellen: Wir anderen kamen ja alle aus Berlin und zumindest in der ersten Zeit gab sich Sen auch noch große Mühe, bei den Proben mit dabei zu sein. Doch er hatte zu Hause eine große Familie zu versorgen und die Mittelaltermärkte waren für ihn auch in finanzieller Hinsicht eine sichere Bank. Wir merkten ziemlich schnell, das Sen das Ganze hier eher als ein lustiges Nebenprojekt betrachtete, worauf alle anderen jedoch überhaupt keine Lust hatten. Entweder ganz oder gar nicht!
Der erste Song zusammen mit Sen war „Werd ich am Galgen hochgezogen“, diese Titelzeile borgten wir uns kurzerhand von Francoise Villon, den Text dazu schrieb Thomas. Komischerweise war das der erste Song, bei dem die Rockband-Besatzung irgendwie Bauschmerzen hatte, zumindest was das recht übersichtliche Songwriting betraf. Aber den Zwischenteil, den „Traubentritt“, wollten wir für das Feuerspucken oder andere Gaukeleien nutzen, deshalb ließen wir uns eben von den anderen so nach und nach auch von diesem Stück überzeugen. Keiner von uns Rockmusikern hatte ja vorher in einer Band gespielt, die Showelemente ins Konzept mit einbeziehen wollte.
Im Winter ging die Mittelalterfraktion der Band ins Studio, um in Eigenregie die CD „In Extremo“ (die „Goldene“) aufzunehmen, ebenso die ersten Stücke der Rockband. Langsam wurde es auch Zeit, dass diese Stücke das Licht der Öffentlichkeit erblicken sollten, denn wir waren gespannt auf die Reaktionen. Die beiden Stücke auf der Kassette ließen zumindest auf das Beste hoffen.
Die Rockband hatte es wie gesagt anfangs schon relativ schwer, da wir ständig ohne unsere Dudelsäcke und ohne Gesang proben mussten – andererseits steckten die Mittelaltermusiker auch nicht wenig Geld in die Produktion der CDs, in die Anmietung des Studios und in die Anschaffung neuer Instrumente und Bühnenbilder. Ohne das Geld von den Mittelaltermärkten wären die ersten In Extremo-Shows wohl bedeutend spärlicher ausgefallen.

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