Rio oder: Was ich noch vergessen hatte zu sagen

Sumpf Schlock – Ton Steine Scherben (IX/1981)
Keine Macht für Niemand – Ton Steine Scherben (Keine Macht für Niemand/1972)

Der 20.August 1996, manchmal erinnere ich mich noch an diesen Tag zurück und dann ist es plötzlich so, als ob es erst gestern gewesen wäre: Es war ein heißer Sommerabend und wir fuhren vom Baden am Abend auf der Autobahn in die Stadt zurück. Es war ein Tag wie im Bilderbuch, den ganzen Sommer über wurden wir um dieses Wetter geprellt, nun zum Schluss wurden noch einmal alle Register gezogen.
Ich schaltete gelangweilt und müde zwischen den beiden einzigen halbwegs hörbaren Berliner Radiosendern hin und her, aber es war zum Verzweifeln: Es gab nur die Wahl zwischen Pest und Cholera! Was ist bloß aus diesen Radiosendern geworden, was ist das für eine erbärmliche Musik? Wo sind der SFBeat, das Rockradio B oder Radio 100 geblieben? Warum spielt niemand mehr all die spannenden Bands? Warum wird alles formatiert und glattgebügelt?
Es war einfach frustrierend: die Musik, diese zweitschönste Nebensache der Welt, hatte schon vor längerem ihre Unschuld verloren und machte zumindest im Radio einfach keinen Spaß mehr. Auch mein neues Projekt In Extremo kam gar nicht oder nur sehr langsam in Fahrt. Ich hatte irgendwie keine Lust mehr auf diese ganzen Bandgeschichten, auf diese sinnlose Zeitverschwendung in verkeimten und überteuerten Proberäumen, das ständige Pleitesein und das ewige Klingeln im Ohr. Gab es nicht wichtigere Dinge im Leben, gerade jetzt, wo man selbst Vater war? Ich kam mir plötzlich unendlich alt vor und hatte mich eigentlich schon dazu entschieden, den Bass endgültig an den Nagel zu hängen. Das wievielte Bandprojekt war In Extremo eigentlich? Das 25.?
So hing ich beim Fahren meinen Gedanken nach. Plötzlich verkündete eine sonore Nachrichtenstimme, dass man heute den Sänger der ehemaligen Polit-Rockband „Ton Steine Scherben“, Rio Reiser, tot aufgefunden hatte…
Ich hatte dem Radioprogramm nur mit halbem Ohr gelauscht, denn das einzig Spannende war ohnehin nur noch der Verkehrsfunk. Selbst die Fußballergebnisse wurden seit einer Weile geflissentlich übergangen, das passte nicht mehr zum neuen, hippen Image der Sendeanstalten. Fußball und Rockmusik war etwas für Proleten. Doch plötzlich schoss es mir durch den Kopf: Was war das eben gewesen? Hatte ich mich verhört oder hatte ich mir das soeben bloß eingebildet? Ich drückte hektisch den Sendersuchlauf und hörte gerade noch die letzten Takte von „Wenn die Nacht am tiefsten“. Also doch! Dieses Stück würde hier nicht laufen, wenn nichts passiert wäre! Und schon gar nicht im Vorabendprogramm! Mir schnürte es die Kehle zu und ich starrte auf die Rieselfelder, die links am offenen Fenster an mir vorbeirauschten – nur für den Fall, dass mir Tränen in die Augen schießen würden! Das wäre mir peinlich vor meiner Freundin und meinem Sohn. Indianer kennen schließlich keinen Schmerz! Mann, ein Popstar ist den Rock´n´Roll-Tod gestorben, redete ich mir ein. Es gibt weitaus schlimmere Dinge im Leben. Das stimmte natürlich so nicht, es half aber erst einmal, um auf andere Gedanken zu kommen.

1982 zog ich nach Berlin, in den Teil der Stadt, der sich jahrzehntelang als Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik zu profilieren versucht hatte. Und hier hörte ich Anfang der 80er auch zum ersten Mal Bands wie Ton Steine Scherben. Eine Freundin lieh mir äußerst ungern ihre „IV“, das berühmte „Schwarze Album“ von 1981. Ungern, weil es auf recht abenteuerliche Weise in die DDR gelangt und mit einem Schwarzmarktpreis von fast 300 Mark eigentlich unbezahlbar war. Doch was waren das denn für Texte?

Harikafulas lauern
In Winnetous Garagen
Unter den Traumfabriken
Die Farsch und Sternstaub rasen

Was sollte das denn sein? Ich war Musikstudent im 1.Semester, gerade frisch in der Stadt und auf der Suche nach einer Rockband. Ich hatte keine Zeit für surrealistische Texte, für Songs die Namen wie „Sumpf Schlock“, „Vorübergehend geschlossen“ oder „Kribbel Krabbel“ trugen. Ich interessierte mich nur recht oberflächlich für Politik. Ich war 16 und kam gerade aus Potsdam. Okay, es gab hier die Stasi wie überall sonst auch, ich sah jeden Tag von meinem Klassenraum auf den Potsdamer Teil der Berliner Mauer und musste wegen meiner langen Haare öfter als andere meinen Personalausweis vorzeigen. Aber sonst? Ich hatte zwar auch schon von den Hausbesetzungen in Hamburg und Westberlin gehört, die Krawalle begeisterten mich wie alle anderen Jugendlichen meines Alters (schließlich waren die Bullen hier genauso wie drüben verhasst) und der Tod von Klaus-Jürgen Rattay, der bei einer Demo auf der Potsdamer Straße 1981 dort von einem Bus überfahren wurde, ging mir ziemlich nahe. Doch Westberlin war weit entfernt, weiter als Moskau oder Peking, und eigentlich auch weiter als der Mond.
Ich ging nach Berlin und so langsam merkte ich, dass auch hier was lief: Auch im Ostteil der Stadt wurden Häuser oder Wohnungen besetzt, es gab die Bluesmessen für die langhaarigen Hippies und Konzerte von nie gehörten Punkbands. Hier gab es Musik die nur im Untergrund zu hören war und es kursierten Unmengen von Kassetten von Bands, die sich „Der demokratische Konsum“, „Firma Trötsch“ oder „Aufruhr zur Liebe“ nannten. Langsam merkte ich, dass Musik und persönliche Haltung irgendwie zusammengehörten. Vielleicht gab es da ja einen größeren Zusammenhang?
Eines Abends saß ich wieder einmal vor dem  Radio und hörte „SFBeat“, das damalige Jugendradio des Senders Freies Berlin. Es gab eine Sendung über die Hausbesetzungen, mit vielen Interviews und vor allem mit viel Musik. Und hier hörte ich zum allerersten Mal den „Rauchhaus-Song“ und „Keine Macht für Niemand“. Ich war völlig elektrisiert! Das waren „Ton Steine Scherben“, auch das waren „Ton Steine Scherben“!

Im Süden, im Westen, im Osten, im Norden
Es sind überall dieselben die uns ermorden
In jeder Stadt und in jedem Land
Schreibt die Parole an jede Wand
Keine Macht für Niemand!

Dieser Abend sollte Folgen haben! Ich wollte an der Musikhochschule nicht mehr stumpf Etüden in mich hinein prügeln, ich wollte keine Level 42-Funkytechniken mehr erlernen und keine Geschwindigkeitsrekorde im Tonleiterspielen mehr brechen – ich wollte genau solche Musik spielen, Rockmusik mit deutschen Texten.
Monate später landete ich genau bei einer solchen Band, heute glaube ich, diese Band fand eher mich, als es umgekehrt der Fall war – und vielleicht gibt es ja wirklich so etwas wie eine Vorherbestimmung. Diese Band nannte sich „Freygang“ und hatte durch ihre frechen deutschen Texte und den daraus folgenden mehrfachen Entzug der Spielerlaubnis bereits einen fragwürdigen Kultstatus erreicht. Also genau die richtige Band für mich! Aber das ist eine andere Geschichte.
Was das alles mit Rio zu tun hat? Wir spielten damals neben vielen, vielen eigenen Stücken auch Songs von „Ton Steine Scherben“: „Ich will nicht werden was mein Alter ist“, „Halt Dich an Deiner Liebe fest“, später dann „Jenseits von Eden“ und „Wo sind wir jetzt?“. Ich weiß nicht mehr wie oft wir diese Nummern live aufgeführt hatten! Vielleicht wurden wir mit der Zeit so etwas wie die Vertretung von „Ton Steine Scherben“, ihre Ständige Vertretung in der DDR sozusagen. „Freygang“ wurde mit der Zeit immer radikaler und ein erneutes Verbot ließ natürlich nicht lange auf sich warten. Und dieses Mal sollte es auf  für immer sein und wir bekamen „lebenslänglich“! Doch was hieß das schon? Es war 1986 und ich war 21. Es war nicht immer einfach den Feind auszumachen, auch im Osten nicht. Wir liefen direkt ins offene Messer – vielleicht war es auch eine Form von Harakiri, was weiß ich? Aber wir wollten lieber aufrecht gehen und uns auch in Zukunft noch in die Augen sehen können. Haltungen waren wichtiger geworden, wichtiger als Plattenverträge und Reisepässe. Und an dieser Entwicklung war auch Rio nicht ganz unschuldig.

Zwei Jahre und viele Aushilfsjobs später, im Oktober 1988, kam es dann zu einem Konzert in der Berliner Werner-Seelenbinder-Halle. Ich konnte es kaum glauben: Rio Reiser in der DDR! Und ich durfte in der Vorband spielen!
Rio Reiser in der DDR! Hieß das etwa auch, dass ab jetzt alles lockerer zugehen würde, jetzt, nachdem sogar schon Bob Dylan in diesem Land gesungen hatte und Bruce Springsteen sein „Born In The USA“ lautstark auf der Radrennbahn verkünden durfte? Rio war damals auf dem Höhepunkt seiner Solokarriere angelangt und hatte gerade mit „Blinder Passagier“ einen ebenbürtigen Nachfolger seines Debütalbums vorgelegt. Es wurde das größte Konzert, an das ich mich erinnern kann. R.P.S. Lanrue, der Gitarrist aus Scherben-Tagen, stiefelte beim Soundcheck locker durch den Saal, der Saxophonist besuchte uns vor dem Konzert auf einen Drink in unserer von den Westkünstlern streng abgeschirmten Garderobe, doch das Beste war: Manager George Glück ließ meine Freundin und mich an beiden Abenden auf den Mixerturm steigen, von wo aus wir uns das Konzert vom wohl schönsten Platz der Halle ansehen konnten.
Auch nach dem Konzert blieb noch Zeit für ein langes und wodkagetränktes Gespräch mit R.P.S. Lanrue und Jochen, dem Bassisten. Sie wussten wenig über die DDR, warum auch? Derweil drängte sich gegenüber ein Großteil der versammelten DDR-Musikprominenz um Rio, der sich krampfhaft am Tresen festhielt und kaum zu Wort kam. Ich hatte befürchtet dass der Abend so zu Ende gehen würde, mit all den musikalischen Speichelleckern und Reisepass-Inhabern, die uns keine 2 Jahre zuvor beim Spielverbot von Freygang ihre Hilfe verweigert hatten. Selbst meine Freundin hatte zur Bar keinen Zutritt. Was für ein Leben! Berufsverbot? Gab es Berufsverbote?
So ging ich Stunden später allein nach Hause und hatte immer noch den neuen Song „Zauberland“ im Ohr, der irgendwie die ganze Situation zu beschreiben schien und mich wohl auch deshalb so tief berührt hatte.

Dann wurde es eine lange Zeit still bis 1990 „Rio***“ erschien. Auch „Zauberland“ konnte man auf der neuen CD wiederfinden, aber was war das für eine Fassung? „Himmel & Hölle“, „Über alles“ und „Durch die Wand“ waren, trotz vereinzelter Lichtblicke, wie „Krieg“ nur noch ein Schatten vergangener Tage. Und auch in der Biographie erwähnte Rio seine Solokarriere nur noch mit einer halben Seite… Warum tat er dir so etwas an? Ich denke noch mit Grausen an eine von einem wahrscheinlich größenwahnsinnig gewordenen Ostmanager einmal quer durch das gesamte ehemalige Gebiet der DDR gebuchte Tournee, mit Knorkator als Support. Mit Knorkator! Und auch der Gastauftritt beim „Tatort“ hinterließ bei den meisten eher ein Gefühl von Mitleid.
Zum „Konzert der Freunde“, was anlässlich seines Todes am 1.September 1996 in Berlin stattfand, bin ich nicht hingegangen. Ich weiß auch nicht warum. Ich hasse Beerdigungen. Oder es war wie manchmal am Schluss des Films: Am Ende eines Krimis bittet der Kommissar die Angehörigen immer zur Identifizierung des Opfers ins Leichenschauhaus und man hört so manches Mal voller Verzweiflung: „Bitte Herr Kommissar, können Sie mir den Anblick nicht ersparen? Ich möchte ihn so in Erinnerung behalten wie er war!“

Ich kann gar nicht genau sagen, zu wie vielen eigenen Songs du uns inspiriert hast. Selbst mit In Extremo spielten wir Jahre später noch einmal „Jenseits von Eden“ auf einem Festival in Wacken, heute das größte Metal-Festival der Welt und nicht weit von dem Ort, an dem du beerdigt worden bist. Ich weiß nicht, wer vom Publikum das damals überhaupt noch mitbekommen hat – aber wir haben an dich gedacht!
Vielen Dank, Rio! Das wollte ich dir zum Schluss noch sagen! Vielen Dank für alles! Und noch etwas: Das war die falsche Vorband für dich, damals im Oktober 1988!

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