Not gegen Elend

Bild Beitrag Not gegen Elend

Three Lions – Baddiel & Skinner and The Lightning Seeds (Single/1996)

„Sag hinterher aber nicht, ich hätte dich nicht gewarnt!“, meinte mein Freund Jeret in seinem charmanten, leicht indisch eingefärbten Englisch, nachdem ich ihm beim gemeinsamen Lunch erzählt hatte, ich hätte endlich ein paar fußballverrückte Europäer dazu überreden können, sich auch einmal ein Match zwischen den Klubs der einheimischen TM League anzutun. Er grinste mich ungläubig an, zuckte nur kurz mit den Schultern und wechselte schnell das Thema. Ich war leicht verwundert, denn so kannte ich ihn gar nicht. Im Großen und Ganzen waren die Malaien nämlich ziemlich stolz auf ihr Land, über die Ausnahmen sprach man nicht gern oder nur hinter vorgehaltener Hand. Hier in Kuala Lumpur und in den Vorstädten ging alles ein wenig freizügiger zu als im Rest des Landes, hier lebten die Angehörigen der verschiedensten Religionen ziemlich friedlich zusammen, die Wirtschaft des Landes war halbwegs in Ordnung und im Gegensatz zu den vielen anderen südostasiatischen Ländern musste niemand auf der Straße leben oder gar hungern. Es gab viele Dinge auf die Malaysia stolz sein konnte, weil sie in dieser Gegend Asiens nicht selbstverständlich waren. Aber Fußball? Malaiischer Fußball? Daran wollte möglichst niemand erinnert werden.
Jeret, mein Freund Andre und ich trafen uns fast jeden Tag in einem der zahlreichen Hawker Stalls in Petaling Jayas Stadtteil SS 2, dessen Name so unromantisch war wie die ganze Gegend hier. Aber hier arbeiteten die beiden und sie nutzen ihre kurze Lunchpause, um mich in die Geheimnisse der original asiatischen Küche einzuweihen, dessen ungewohnte Schärfe jenseits von Gut und Böse lag. Wir sprachen täglich über Gott und die Welt, wir verglichen das Leben in Asien mit dem in Europa und sie erklärten mir all die kleinen Dinge, die man nie erfahren würde, wenn man sich im Ausland immer nur an der Oberfläche bewegte. Man brauchte Freunde, einheimische Freunde, das hatte ich ziemlich schnell gemerkt, Freunde, die einem die fremde Welt aus ihrem Blickwinkel nahebringen konnten. Und so verspürte ich schon nach knapp zwei Wochen keine Schmerzen mehr beim Essen, auch wenn ich immer noch nicht ganz glauben wollte, was ich da gerade aß. Aber Fußball?
„Hier geht niemand zum Fußball, das kannst du mir ruhig glauben. Darüber steht ja nicht einmal etwas in der Zeitung“, beteuerte Jeret.
Ich wusste längst, dass er Recht hatte, denn ich blätterte fast täglich in den hier erscheinenden englischsprachigen Tageszeitungen, wie dem Star, der New Straits Times und hin und wieder auch in der Sun Daily, wenn ich in einem der zahlreichen Cafés in Kuala Lumpur saß und mich auf das Schreiben einstimmen wollte. Ich wollte wissen wie dieses Land funktionierte, also versuchte ich auch die offizielle Tagespolitik zu verstehen. Zum Kaffee gehörte als erstes aber immer der Sportteil der Zeitung, der das Dilemma dafür gleich auf mehreren Seiten zeigte. Über jede Automarke und die Zweitfrau eines jeden Auswechselspielers von Arsenal und Chelsea wurden Vermutungen angestellt, jeder Furz von David Beckham und Steven Gerrard wurde von den Kommentatoren auf das Gründlichste seziert, währenddessen man Berichte über die malaiische Liga mit der Lupe suchen musste. Auch die Bundesliga war hier nicht mehr als nur eine Fußnote. Mir war zwar schon früher aufgefallen, dass es auf dem Chinamarkt ausschließlich T-Shirts englischer Klubs zu kaufen gab, doch dass das Missverhältnis so krass war, überraschte mich dann doch.
England! Warum eigentlich immerzu England? Zehntausend  Kilometer von London entfernt zu wohnen und immer mit der Gewissheit seinen Lieblingsklub niemals besuchen und in der Kurve stehen zu können, wollte partout in meinen Kopf nicht rein. Das wäre genauso, als würde ich auf CA River Plate aus Uruguay stehen und mir permanent den Südamerika Cup über Satellit zu Gemüte ziehen. Und wenn es schon keine Erklärung für die zahlreichen „I’m a ManU Supporter“ – Sticker auf den Autos gab, wie sollte man sich dann erst die Unterstützung der englischen Nationalmannschaft erklären, dessen letzte Erfolge schon Lichtjahre her waren? Diese Spiele hatten zwar einen hohen Unterhaltungswert, aber der war auch eher den lustigen Einlagen der englischen Torwarte zu verdanken, die in wichtigen Spielen zuverlässig versagten. Es gibt eigentlich nur eine einzige Sache, die am englischen Fußball großartig ist, und das ist der EM-Song von 1996:

Three lions on a shirt
Jules Rimet still gleaming
Thirty years of hurt
Never stopped me dreaming

Doch was die Engländer da träumen ließ, war der Name eines Cups, der nach einem Franzosen benannt war. Nach einem Franzosen, so weit war es nun schon mit dem Mutterland des Fußballs gekommen! Und sie träumten immer noch von 1966, wo sie gerade einmal durch ein äußerst umstrittenes Tor Weltmeister wurden. Das Ganze war nun auch schon wieder schlappe 40 Jahre her. Das Beschwören alter Tugenden konnte einem mit der Zeit wirklich auf die Nerven gehen, aber in dieser Hinsicht sind wohl alle Fußballfans weltweit gleich. Und der gemeine Fußballfan unterscheidet sich da nur unwesentlich von irgendeinem CSU-Mitglied einer oberbayrischen Gemeinde.

But I still see that tackle by Moore
And when Lineker scored
Bobby belting the ball
And Nobby dancing

Es war manchmal ganz lustig, hier in Kuala Lumpur mit ein paar Freunden auf einer Großleinwand englischen Fußball zu gucken. Man konnte draußen sitzen und es war selbst um Mitternacht noch warm. Aber eigentlich interessierten mich Manchester United, Arsenal, Tottenham und Newcastle nicht die Bohne. Es begann nach einer Weile einfach gehörig zu nerven und ich bestand bei meinen Freunden darauf, den beim gemeinen Volke ungeliebten einheimischen Fußball eine Chance zu geben. Ich wollte das Land kennen lernen und irgendwie beinhaltete das für mich einfach alle Seiten. Alle! Ans Essen hatte ich mich schließlich auch gewöhnt.
Nach einem Blick ins Internet konnte ich mir Jerets und Andres plötzlichen Themenwechsel dann auch erklären, denn meine Kurzrecherche förderte wirklich Unerwartetes zutage und übertraf meine schlimmsten Befürchtungen: Malaysias Nationalteam dümpelte seit Jahren um Platz 165 der Weltrangliste herum und das ließ allerhöchstens auf Bezirksliganiveau in Deutschland hoffen, wenn überhaupt. Platz 165, viel tiefer ging es ja kaum noch, selbst wenn man die einzelnen Inseln von Ozeanien mal außen vorließ. Vor dem malaiischen Nationalteam tummelten sich sogar noch solch illustre Fußballnationen wie die Seychellen, Mauritius  und sogar Palästina, welches eigentlich alles Länder waren, in denen man kaum bespielbare Fußballplätze vermuten würde. In Kuala Lumpur hingegen gibt es mit dem Bukit Jalil eins der größten Stadien der Welt – manche sagen sogar das größte Stadion der Welt – doch dieses nutzte man vorrangig zum Verlieren. Wie selbstverständlich hatte sich das Nationalteam noch nie für irgendein größeres Turnier qualifizieren können, die WM-Qualifikation glich einem Desaster und Besserung war auch nicht in Sicht. Die U 23 nahm sich die Tradition der Nationalspieler ebenfalls zu Herzen und glänzte vor kurzem mit einem 0:7 und 3:5 gegen die Fußballmächte aus Thailand und Myanmar. Selbst gegen Myanmar lief also nichts, ich konnte es kaum glauben! Dabei konnte ich bei einem Trip durch Myanmar vor kurzem feststellen, dass die Leute dort definitiv andere Sorgen hatten, als Fußball zu spielen.
Doch wenn die Leidensfähigkeit der Zuschauer, auch durch den englischen Fußball, schon so gestählt war, wieso reichte es dann nicht für die Unterstützung der einheimischen Mannschaften? Man konnte das Ganze ja wenigstens mit Humor oder Mitleid nehmen, denn schließlich waren die Färöer-Inseln und Liechtenstein in Europa auch immer für eine Überraschung gut. Und wer erinnert sich nicht gern an das grandiose
1 : 0 von England gegen Aserbaidschan?
So vorgewarnt machten wir uns also auf den Weg. Es war ein Spiel des Malaysia Cup und Malaysia Cup klang erst einmal gut. Da konnte eigentlich gar nichts anbrennen, schließlich hatten Pokalspiele weltweit ihre eigenen Gesetze. Warum sollte das hier anders sein? Ich gab mir jedenfalls Mühe keine Vorurteile zu haben und stellte mir stattdessen vor, wie ich mich bei dieser Luftfeuchtigkeit und diesen Temperaturen dort unten auf dem Rasen anstellen würde. Instinktiv griff ich in die Hosentasche und suchte nach der Zigarettenschachtel, dessen Inhalt vom Moped fahren am Vormittag schon etwas geknickt war. Doch schon beim Gedanken an jedwede Eigenaktivität bei diesen Temperaturen verspürte ich plötzlich nicht mehr die geringste Lust darauf, mir eine Zigarette in den Mund zu stecken.
Immerhin würden heute Abend mit MPPJ Selangor der Cup-Gewinner von 2003 auf den Meisterschaftsfavoriten Pahang FA treffen. Und sollte das alles in die Hose gehen, dann konnten wir immer noch eine großartige Karriere als Stadionhopper starten und hier den ersten Länderpunkt für unsere pure Anwesenheit kassieren. Schließlich waren wir zu Gast in einem 25.000 Leute fassendem Stadion in Petaling Jaya/Malaysia. Welcher Fußballfan konnte schon von sich behaupten, jemals dort gewesen zu sein?
Der Weg zum Stadion während der Rush Hour war das übliche Chaos, doch von Fußball und Fußballfans war selbst kurz vor der Autobahnabfahrt zum Stadion noch nichts zu sehen: Keine Schals, keine hupenden Autos, es gab nicht mal Sticker auf den Heckscheiben, die von irgendeinem Lieblingsklub kündeten. Doch zu unserer Überraschung war der Stadionparkplatz halbwegs voll, das gab Hoffnung, dass hier wohl doch irgendein Spiel stattfinden würde. Und wirklich: Direkt vor dem Stadion standen ein paar T-Shirt-Verkäufer, es gab Stände mit asiatischem Fast Food und fliegende Händler, die Wasserflaschen, Tee in Plastiktüten und Cola in Büchsen anboten. Wir kauften uns Tickets am nächstbesten Schalter und enterten, mit dem Nötigsten versehen, den Stadion-Innenraum. Kein Bier weit und breit, na klar. Irgendwie war es beeindruckend, denn trotz der Hitze machten die angereisten Fans schon ordentlich Krach. Wir nahmen uns vor der Heimmannschaft die Daumen zu drücken, schließlich wohnten wir in dieser Stadt und einen Gästeblock gab es ohnehin nicht. Hier ging man zum Fußball wie in Deutschland ins Kino.
Im Stadion war überraschenderweise alles in Gelb-Blau gehalten, die Farbe der Gäste. Dass von den rund 5000 Zuschauern  ungefähr 4700 aus Pahang waren, verwunderte uns zwar etwas, aber als ehemaliger Potsdamer kannte ich das auch von den Heimspielen von Motor Babelsberg, wenn alle paar Jahre mal der 1.FC Union Berlin aus der Hauptstadt zu Besuch war und der Provinz zeigen wollte, was eine Harke war. Hier waren die Fans aus der Hauptstadt jedoch deutlich in der Unterzahl und die Provinz hatte bereits freudestrahlend das Ruder übernommen.
Wir staunten nicht schlecht, als wir bei MPPJ plötzlich ein weißes Gesicht auf der Trainerbank entdeckten. Es war das Gesicht von Michael Feichtenbeiner, vor nicht allzu langer Zeit noch Cheftrainer beim FC Rot-Weiß Erfurt, eine Tatsache, die meinen Freund Mario, ein gnadenloser FCE-Fan, kurzzeitig kollabieren ließ. MPPJ hatte also vor dem Anpfiff für uns schon so gut wie gewonnen. Deutsche Taktik gegen malaiisches Spielverständnis, was sollte da noch schief gehen? Außerdem trat der Gegner aus dem benachbarten Bundesland Pahang durch ein schweres Spiel 3 Tage zuvor schon vermeintlich geschwächt an.
Die Stimmung im Stadion war fast brasilianisch, denn beide Fanblocks waren mit jeweils einem kompletten Trommelorchester angereist, die sich gegenseitig anstachelten. Was fand die Presse nur so gut an englischen Stadien? Dort gab es schon lange keine Fangesänge mehr, Fahnen waren verboten und das Stadion von Arsenal nannte man wegen der nichtvorhandenen Stimmung nur noch die „Bibliothek von Highbury“. Hier wurde stattdessen noch anständig Krach gemacht! Das hatten wir den ansonsten ja eher dezent auftretenden Asiaten nicht wirklich zugetraut, zumal es weit und breit auch keinen Tropfen Alkohol zu kaufen gab. Manchmal vergaß man einfach, dass man in einem Land lebte, indem der Islam Staatsreligion war.
Trotz der unglaublichen Temperaturen, die selbst bei den Zuschauern den Schweiß in Strömen fließen ließ, legten die Mannschaften ein enormes Tempo vor, was beide erstaunlicherweise auch eine knappe halbe Stunde durchhielten. So wunderte es denn auch nicht, dass sich MPPJ eher zufällig in der 4. Minute ein 1:0 ermurmelte. Der Torschütze war natürlich ein Verteidiger! Doch mit meinen Zigaretten in der Hosentasche wollte ich hier mal keine große Lippe riskieren. Ich wäre in diesem Stadion wahrscheinlich schon bei einem bloßen Dauerlauf über den tiefen Rasen aus den Latschen gekippt. Danach war das Niveau im Keller, es gab Steinzeitfußball und Fehlpässe soweit das Auge blickte und immer wieder Einzelaktionen quer über das gesamte Spielfeld.

So many jokes, so many sneers…

Der Stimmung im Stadion tat das jedoch keinen Abbruch, schließlich war ein Tor gefallen, wenn auch für die anderen. Es flogen zwar ein paar mit Tee gefüllte Plastiktüten hin und her, eine malaiische Spezialität, die man in allen Garküchen finden konnte, aber das war es dann auch schon mit den wütenden Reaktionen der Gäste. Man konzentrierte sich lieber wieder aufs Trommeln. Nach dem Führungstreffer durch MPPJ wurden wir sofort von Fans aus Pahang umringt, aber nicht weil wir zur Minderheit gehörten, die sich über das 1:0 der Heimmannschaft freute, sondern weil wir als Weiße hier quasi als der Inbegriff der Fußballweisheit galten.
„Germany!“
„Bayern Munich!“
„Beckenbauer!“
Irgendwie freuten sich die Jungs über unsere Anwesenheit, schließlich hatten wir uns als Weiße in die vermeintliche Fußballhölle nach Malaysia getraut! So schlecht konnte es dort also gar nicht sein! Und wir freuten uns auch, schließlich ließ das Partyniveau hier nicht zu wünschen übrig, von der Auswahl an Getränken mal ganz abgesehen.
Kurz vor der Halbzeit gab es dann noch den Ausgleich durch Pahang, dessen Torschütze Teofore Bennet eigentlich in Jamaika beheimatet ist. Immerhin hatte Jamaika schon einmal die Qualifikation zu einer WM geschafft, auch wenn die Insel sonst nicht unbedingt für Fußballlegionäre bekannt ist. Der Typ war mit Abstand der Auffälligste des ganzen Abends und legte zwei Minuten später gleich noch mal das 1:2 hin, bevor er das Schicksal von Petaling Jaya mit seinem 1:3 in der 68.Minute dann endgültig besiegelte. Seine Vita las sich am nächsten Tag, man hatte sich zu einem kurzen Beitrag im „Star“ hinreißen lassen, dann auch am eindrucksvollsten:  Bennet schoss 60 Tore zwischen 2002 und 2004, doch leider nicht für Manchester United oder Ajax Amsterdam – ja nicht mal für Bochum, Regensburg oder Babelsberg – es war für den südafrikanischen Virginia United FC.
Apropos Virginia: Bis zur Umbenennung der malaiischen Liga in „TM Super League“ war der Brustsponsor von Pahang die Zigarettenfirma Dunhill. Vielleicht lag das Niveau ja auch an den vollen Aschenbechern in der Kabine?

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