Ottmarsbocholt

8.Kapitel: 2003 – Küss mich

Winter/ Frühjahr im Münsterland, in der Nähe eines kleinen Dorfes namens Ottmarsbocholt, genau dort, wo sich sonst immer Fuchs und Hase „Gute Nacht!“ sagen. Felder soweit das Auge blicken kann und mitten drin die Principal-Studios – mit der vielversprechenden Adresse: „Dorfbauerschaft 24“. Hier also würden wir die nächsten Tage, Wochen und Monate, zusammen mit den beiden Produzenten Vince Sorg und Jörg Umbreit, verbringen!
Die beiden kannten wir ja schon vom Mix und Mastering für „Sünder ohne Zügel“, außerdem hatten wir uns hier zwischendurch schon immer mal wieder zur Vorproduktion oder, wenn man so will, zum Ideen sammeln, getroffen. Und wir hatten auf der Stelle einen guten Draht zueinander!
Das Problem mit den Produzenten ist ja eigentlich immer wieder dasselbe: Sie wollen dir als Musiker die Welt und das Musikgeschäft als solches überhaupt erklären. Und dabei interessiert es sie auch nicht die Bohne, ob du schon 20 Jahre länger „im Geschäft“ bist oder ob deine CD-Sammlung zu Hause die ihrige um ein Vielfaches in den Schatten stellt. Produzenten haben immer Recht! Sie wissen immer, was gerade modern und angesagt ist, sie kennen den Geschmack deines eigenen Publikums immer besser als du selbst und sie halten sich, gelinde gesagt, oftmals für die zentrale Geschmacksbehörde des Musikbuisiness – und sind selbstverständlich dem Zeitgeist immer eine Nasenlänge voraus!
Genau auf solche Heinis hatten wir überhaupt keine Lust – und genau das unterschied diese beiden auch von all den anderen Produzenten, die wir  mittlerweile so kennen gelernt, oder über die wir uns informiert hatten – von unserem alten Team mal ganz abgesehen. Doch wir bräuchten natürlich schon immer noch jemanden von außen, der bei uns den Hut auf hätte und der nicht gleich alles durch die In Extremo-Brille sehen würde. So eine Art Supervisor, denn mit dieser Band kann es mitunter schon sehr kompliziert und anstrengend werden, wenn man damit beginnt, über Songs und Ideen zu streiten. Wir haben einfach keinen wirklichen Komponisten oder Songwriter in der Band, keinen Solokünstler oder Egomanen, was die Sache wohl wenigstens in dieser Beziehung etwas einfacher gestalten würde – dafür sind bei uns alle Bandmitglieder gleichberechtigt. Es ist wie in einer riesigen Familie: Es gibt 7 verschiedene Meinungen (mit denen der Produzenten dann im schlechtesten Fall 9), die es irgendwie in Sack und Tüten zu bringen gilt. Auch wenn es so bei uns dann immer etwas länger dauert als bei anderen Bands und unsere Proberei und Zusammenarbeitet etwas verkompliziert: Das Ganze kann die Sache auch sehr spannend machen. Wenn die Chemie zwischen den einzelnen Bandmitgliedern stimmt, dann funktioniert auch alles andere wie von Zauberhand.
Doch zwei Varianten der Arbeit haben sich im Laufe der Zeit bei uns trotzdem irgendwie durchgesetzt:
Variante A) ist ja vielleicht für den Außenstehenden noch nachvollziehbar: Wer das beste Argument hat, der setzt sich schließlich auch mit seiner Idee durch. Hat jemand das Grundgerüst eines Songs allein gebastelt oder komponiert, dann erhält derjenige sozusagen noch 25 % Bonus und ein kleines Vetorecht obendrauf. Das ist bei uns ein ungeschriebenes Gesetz und kann eigentlich nur durch andauernde Abwesenheit des Komponisten selbst außer Kraft gesetzt werden.
Variante B) hingegen bedeutet einfach nur, dass derjenige, der am längsten durchhält, zum Schluss „Recht“ behält. Will man also unbedingt eine Idee auf „Teufel komm raus!“ durchdrücken, dann kann man schon mal auf den Müdigkeitsfaktor setzen oder muss versuchen, seine Kollegen mit alkoholhaltigen Getränken außer Kraft zu setzen.  Aber im Ernst: Wir veröffentlichen natürlich nichts, was nicht allen Bandmitgliedern gefällt. Dass dabei jeder andere Favoriten hat, ist natürlich normal.
„Küss mich“, „Segel setzen“, die „Königin“ und „Nymphenzeit“  waren die ersten Songs, die zur neuen CD bereits im Proberaum in Berlin entstanden sind. Und bis auf ein paar Textveränderungen haben wir sie im Prinzip auch so belassen, wie sie ursprünglich einmal angedacht waren. Bei der Arbeit an dieser neuen CD wollten wir uns auch nicht wieder so unter Druck setzen lassen wie bei den vorangegangenen Produktionen (unser Vorhaben wie in jedem Jahr), deshalb begannen wir dieses Mal schon kurz nach der Veröffentlichung von „Sünder ohne Zügel“ mit dem Sammeln neuer Ideen. Hinzu kam, dass als Nebenprodukt unserer DVD gerade erst eine Live-CD mit dem überwältigenden Titel „Live 2002“ erschienen war. Außerdem wurde unsere Plattenfirma „Mercury“ von ihrem Mutterkonzern wegen Unrentabilität wegrationalisiert und so hingen wir, mehr oder  weniger, in der Luft. Wir wussten nicht, ob wir von der anderen Abteilung, der „Motor Music“ übernommen werden würden, denn die könnten mit dem ganzen Mittelalterkrempel wohl nichts rechtes anfangen, hieß es zumindest gerüchteweise – und wahrscheinlich stimmte das anfangs sogar! So hatten wir also im Hinterkopf immer den Gedanken, dass wir die Studioaufnahmen zur Not auch noch vertagen könnten, sollte sich das neue Material als noch unreif oder gar unbrauchbar erweisen. Und das war nicht das schlechteste Gefühl nach dem Terminstress der ganzen vorangegangenen Produktionen. Zum ersten Mal in der Bandgeschichte von In Extremo konnten wir tun und lassen was wir wollten.
So wurde unser Computer von nun an also immer und immer wieder mit Dudelsack- und Gitarrenriffs gefüttert, bis keiner der Anwesenden mehr wusste, wo was (und warum) zu finden war. Komplett  ausgearbeitete Songs verschwanden in den Untiefen der Festplatte (es waren natürlich immer die besten!), es wurden die wunderlichsten Fragmente zusammengebastelt und es kamen Ideen aus Ecken, die vorher niemand in dieser Form vermutet hätte:

„Watt soll ditt denn werden, ´n Weihnachtslied?“
„Können wir nicht wenigstens mal einen Song ohne DREI Dudelsäcke aufnehmen?“
„Ey, wir ha´m jestern 6 Stunden Ideen aufgenommen, aber der Ordner hier is total blank! Ick weeß ja ooch nich!“
„Nicht schlecht der Mittelteil! Schade nur, dass wir den schon auf  „Weckt die Toten“ draufhaben! Haste eigentlich lange dafür jebraucht“
„???“
„Ja, ab und zu sollte man ooch mal seine alten Rillen abhören, oder watt???“
„Py kann heute nicht, der muss zur Hundekörung!“

Das Leben eines Musikers ist eben auch immer mit viel Leerlauf und Warterei verbunden – auf die lieben Kollegen, auf den vergessenen Proberaumschlüssel, darauf, dass die alte Mistkiste endlich anspringt, auf den Soundcheck, aufs Konzert und überhaupt! Und auch beim Komponieren und Erarbeiten ist es jedes Mal das gleiche Spiel: Je älter ein Stück ist, desto länger wird darüber diskutiert. Warum weiß ich nicht. Aber Fakt ist auch, dass wir uns nach mehrwöchigen Diskussionen, und nachdem wir ein Stück immer wieder bis in alle Einzelatome zerpflückt haben, eigentlich immer wieder auf die ursprüngliche Idee einigen. Oft kommt es auch vor, dass uns Songideen als zu einfach und zu banal erscheinen, als dass sie in dieser Form auf eine CD gehörten. Dann werden die schrägsten Harmonien, die kompliziertesten Tempiwechsel und die abartigsten Gitarren- und Dudelsackpassagen dazu geschraubt – nur um hinterher festzustellen, dass der Song nun einfach Scheiße klingt!
Gewiss kann man „Vollmond“, „Küss mich“, das „Palästinalied“ und „Ai Vis Lo  Lop“ für banal halten – aber genau diese Songs sind bei den Konzerten immer eine sichere Bank und machen oftmals am meisten Spaß – und das selbst in Mexiko, wo die allerwenigsten der deutschen Sprache mächtig sind. Woran das liegt? Vielleicht ist „weniger“ manchmal „mehr“, besonders wenn 6 Instrumentalisten auf der Bühne stehen. Jedenfalls habe ich meinen „künstlerischen Anspruch“, der mir anscheinend damals während meines Musikstudiums heimlich zu Testzwecken eingepflanzt wurde und der beinhaltete, in jedem Song mindestens 18 Tempi- und 23 Harmoniewechsel, rasend schnelle 16tel-Ketten und den Funky-Daumen unterbringen zu müssen, ad acta gelegt. Doch einen guten Song einfach mal so stehen zu lassen oder einfach nur „songdienlich“ zu begleiten, das hat insbesondere der Rockabteilung von In Extremo so manches Mal Schweiß und Tränen gekostet!
Trotz meines Musikerdaseins langweilt mich Studioarbeit immer fürchterlich und ich bekomme pünktlich meinen Studiokoller. Ich weiß nicht warum, aber irgendwie kann ich mich nicht für Mischpulte und das ganze Drumherum begeistern: Bildschirme, Kabelschlangen und Hunderte von kleinen blinkenden Geräten, die alle schweineteuer waren und irgendetwas machen sollen, was ich nicht nachvollziehen kann. Ich schwöre – ich hab es versucht, aber es nutzt nix. Ich weiß – irgendwie ist das ja, als wenn ein Taxifahrer nicht gern Auto fahren würde, aber wahrscheinlich kann ich nur einfach nicht lange genug ruhig auf einem Stuhl sitzen. Ich bin gern mit der Band unterwegs und spiele gern live, aber Studioarbeit? Gott bewahre, da kann ich mir schönere Sachen vorstellen! Aber einer muss ja schließlich auch für den Rest zuständig sein und außerdem wäre ja sonst dieses Buch hier niemals entstanden.

Otti-Botti war nicht die schlechteste Studiowahl, denn wir waren „weit ab vom Schuss“ und konnten uns auf die Musik konzentrieren. Und auch Vince und Jörg wussten uns zu Höchstleistungen zu animieren. Sie hatten eben die Rolle der Dompteure, aber die spielten sie auch wirklich hervorragend. Außerdem konnte man sich, sofern man wollte, in die Natur zurückziehen, im Wald joggen, Inline skaten oder ins benachbarte Münster in die Sauna fahren – was ich dann auch immer tat, während die Bandkollegen noch schliefen.
Es war also recht entspannt. Wir nahmen all unsere Ideen auf, von denen wir selbst überzeugt waren, diskutierten über alles, probierten neue Teile aus und schrieben auch ein paar Songs wie „Mein Kind“ im Studio komplett neu. Insgesamt blieben am Schluss 18 Stücke übrig, die es in die engere Auswahl schafften. Endlich waren wir einmal in der glücklichen Lage, nicht immer nur am Limit arbeiten zu müssen, sondern wir hatten sogar noch das eine oder andere gute Stück „auf Halde“. Man kann ja nie wissen!
Dass „Küss mich“ unsere neue Single werden und dazu auch ein Video gedreht werden sollte, wurde uns ziemlich schnell klar. Auf unserer Weihnachtstour funktionierte das Stück live auch schon bestens und es war natürlich auch um einiges eingängiger als zum Beispiel die „Königin“, die wir während der Tour ebenfalls antesteten. Auch die Plattenfirma war der Meinung, dass wir mit diesem Stück versuchen sollten, in die Single-Charts zu kommen, denn wenn man im Radio gespielt werden will, muss man in den Single-Charts vertreten sein! So ist das eben! Die gute alte Zeit, in der die Radiomoderatoren noch ihre eigenen Platten von zu Hause mitbringen durften ist nun (leider) definitiv vorbei. Das allgemein übliche „Formatradio“ spielt leider nur Singles – und auch nur die aus den oberen Platzierungen. Willkommen in der Realität! Dasselbe gilt natürlich auch für das Fernsehen, nur sind hier die Chancen noch wesentlich geringer, als Band eine Chance zu bekommen. Aber dazu später noch mehr.
Kurzum: Anfang April hatten die ganze Band sowie Jörg und Vince das Gefühl, eine gute CD am Start zu haben! Die Neue ist ja bekanntlich immer die Beste, aber dieses Mal hatten wir schon ein ganz besondere Ahnung: Wir hatten unsere ganze Kraft und Energie in dieses Werk gesteckt und waren alle vom Ergebnis überzeugt – besser ging es nicht! Hoffentlich würde das Publikum unseren Enthusiasmus auch teilen…
Nach 3 Monaten Otti-Botti ging es endlich zurück nach Berlin. Von nun an müsste die neue CD, die nun „Sieben“ heißen würde, ihr Eigenleben entwickeln. Warum ausgerechnet „Sieben“? Sieben Jahre In Extremo, sieben Musiker und das siebte Album! Nun musste ich meinen Bandkollegen nur noch möglichst schonend beibringen, dass ich Anfang August für ein paar Jahre nach Malaysia übersiedeln würde…

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