Los Wochos in Mexiko 2002 – von Arnulf Woock

7.Kapitel: 2002 – Die Lebensbeichte

Es gibt wohl keine Band, die bisher die Möglichkeit hatte, eines oder mehrere Konzerte in Mexiko zu absolvieren und die nicht mit großer Begeisterung von den dortigen Fans, den angenehmen äußeren Umständen und der Freundlichkeit der dortigen Bevölkerung spricht. So auch im Falle von In Extremo, die bereits vor 2 Jahren ihre erste Reise nach Mexiko unternahmen und dort, nach einem Auftritt im Hard Rock Café in Mexiko City die Möglichkeit bekamen, bei einem öffentlichen Festival vor über 10.000 Besuchern zu spielen, ein Event, bei dessen Beschreibung jedem Bandmitglied auch heute noch ein wohliger Schauer über den Rücken zu rieseln scheint.

Dienstag, 24.9.
Kein Wunder also, dass die Erwartungen und die Vorfreude auf den zweiten Trip nach Mittelamerika, der für Ende September ansteht und eine knappe Woche dauern soll, äußerst hoch sind. Am Dienstag, den 24.September, geht es vom Flughafen in Frankfurt los Richtung Mexiko City, allerdings in unterschiedlichen Flügen, so dass ein Teil der Band inklusive Crew von Berlin über Amsterdam einfliegt, während der Rest den Weg über Frankfurt nimmt, was sich allerdings für mich erst bei der Ankunft in Mexiko herausstellt, so dass die erste Begrüßung erst am dortigen Flughafen stattfindet. Glücklicherweise trifft der Rest der Band mit Managerin Doro bereits kurze Zeit später ein, so dass es, nach Erledigung der üblichen Formalitäten, ziemlich fix ins Hotel geht – in einer rund dreiviertelstündigen Fahrt durch das in der Abenddämmerung liegende Mexiko City, die einen ersten Eindruck dieses unüberschaubaren 30-Millionen-Molochs bietet. Nach dem Einchecken im kleinen, aber netten Hotel, treffen sich alle im angeschlossenen Hotelrestaurant, das in der Art typischer US-amerikanischer Diners gehalten ist. Dort warten neben Antonio, dem mexikanischen Konzertpromoter In Extremos, bereits die Chefin der mexikanischen Mercury-Division Clauzzen Hernandez, die sich in den nächsten Tagen fast rund um die Uhr um das Wohlergehen von Band und Crew kümmern wird, sowie zwei ihrer Kollegen. Bei einem ersten mexikanischen Abendessen mit Tacos und Enchilladas wird kurz der Ablauf des kommenden Tages durchgesprochen. Der hat es in sich, neben vier TV-Auftritten steht für die Band noch eine Pressekonferenz auf dem Plan. Insbesondere der erste TV-Auftritt, schwärmen die Mexikaner, sei etwas ganz Besonderes, findet dieser doch nicht nur in Mexikos beliebtester Sendung im Frühstücksfernsehen statt, sondern ist der Gastgeber dieser Sendung ein Clown namens Brozzo, ein äußerst sarkastischer Charakter, der insbesondere beim jungen Publikum beliebt ist und auf eine Einschaltquote von über 10 Millionen Zuschauern verweisen kann. Da die Abfahrt zu diesem Auftritt, den Michael (Das Letzte Einhorn) und Dr. Pymonte absolvieren werden, bereits kurz nach 8 Uhr sein wird, geht es nach ein, zwei abschließenden Getränken dann auch auf die Zimmer

Mittwoch, 25.9.
Direkt nach dem Aufstehen werfe ich einen Blick in das örtliche Fernsehprogramm und stoße recht bald auf das Programm Brozzos, der, wie unter Starkstrom stehend, unterstützt von zwei Assistenten wie ein Wasserfall redet und offensichtlich die aktuellen mexikanischen Tagesgeschehnisse zu kommentieren scheint. Nach einem schnellen Frühstück begeben wir uns im Kleinbus auf die Fahrt ins Studio, während der Rest des Teams im Hotel verweilt um sich den Auftritt im dortigen Restaurant im Fernsehen anzusehen, vor dessen Türen bereits ein mit lederner Fliegermütze und passender Brille ausgestatteter Kollege Brozzos, der wohl als eine Art Außenberichterstatter fungiert, wartet und den vorbeilaufenden Passanten augenscheinlich äußerst irritierende Fragen stellt. Im Studio selber besteht leider absolutes Film- und Fotoverbot, was insbesondere für die mitgereiste Berichterstatterin, die zahlreiche Aufnahmen für die bevorstehende In Extremo-DVD aufnehmen soll, sehr ärgerlich ist. Brozzo (dessen Souffleur übrigens in einem Klohäuschen am Rande des Aufnahmesets seinen Platz gefunden hat) ist weiterhin voll in Fahrt und begrüßt die Band überschwänglich, überraschenderweise auf Deutsch, hat der gute Clown doch einige Jahre in der Nähe von Karlsruhe gelebt. Das Interview  selbst, in dem es hauptsächlich um ein paar Erinnerungen an Deutschland und Michaels und Py´s Tätowierungen geht, scheint allen jedenfalls gehörig Spaß zu machen – die Sendezeit wird deutlich überzogen. Sich für die drei Tage später geplante Show In Extremos in Mexiko City als Conférencier zu verdingen lehnt Brozzo aus Zeitgründen leider ab, verspricht aber, zumindest der am nächsten Tag stattfindenden Autogrammsession seine Aufwartung zu machen.
Draußen vor dem Studio ist weiterhin Brozzos Kollege in Aktion, der sich eine Handvoll Passanten vor die Kamera geholt hat und diese mit dunklen Sombreros sowie riesigen verspiegelten Sonnenbrillen ausgestattet hat, ein bizarres Bild das an mexikanische Bösewichte aus frühen amerikanischen Krimiserien erinnert.
Im Hotel wartet feixend bereits der Rest des Teams, das großen Spaß an der TV-Performance Michaels und Pymontes gehabt zu haben scheint. Mit der kompletten Band, die sich schnell in ihr Bühnenoutfit schmeißt, geht es zur örtlichen Dependance von Tower Records, wo eine Pressekonferenz mit ca. 30 Journalisten der Tagespresse stattfindet, bei der die Band zwei akustische Stücke zum Besten gibt.
Nach einem ausführlichen Mittagessen in einem kleinem Restaurant in einem der unzähligen Bezirke der Stadt (ein Gefühl für die Größe Mexiko Citys will sich auch nach mehreren Tagen Aufenthalt in der Stadt absolut nicht einstellen) steht der nächste TV-Termin an, diesmal bei einem Musikkanal, der das mexikanische Äquivalent zu Viva darstellt. Neben dem, wie Micha anschließend erzählt, „extremen Wolf, den die Moderatorin gehabt hat, so dass  ich jedes Mal, wenn sie eine Frage gestellt hat, entweder den Kopf zur Seite drehen oder die Luft anhalten musste“, erschweren vor allem die Probleme, welche die eigens engagierte Dolmetscherin bei der Übersetzung der Fragen vom Spanischen ins Deutsche hat, das Interview deutlich.
Über ein weiteres TV-Interview bei einem weiteren Musiksender geht es zum abschließenden Termin des Tages: ein Live-Auftritt in einer Musiksendung in einem Studio, das im obersten Stockwerk des mexikanischen World Trade Centers zu finden ist. Die Sicherheitskräfte nehmen es mit den Kontrollen hier jedenfalls ziemlich genau, der eine oder andere Spaß dazu bleibt natürlich nicht aus, doch insbesondere  ein Bandmitglied kann, von leichter Höhenangst befallen, damit nicht sonderlich viel anfangen und besteht darauf, den Auftritt so zügig wie möglich zu absolvieren um anschließend schnell wieder aus dem Gebäude zu kommen.
Im Studio selber werden vor In Extremo noch zwei mexikanische Techno-DJs befragt, bevor in einer kurzen Werbepause die Band vor die Kamera gebeten wird. Aufgrund des Platzmangels legt sich die Co-Moderatorin auf den Boden vor einen Couchtisch und beginnt, sobald die Kamera läuft, sich auf merkwürdigste Weise davor zu räkeln. Da die Dame nicht mehr gerade die jüngste ist und auch ihre Verrenkungen nicht sonderlich erotisch wirken, nimmt das Ganze etwas lächerliche Ausmaße an. Später stellt sich heraus, dass die Sendung von einem Möbelfabrikanten unterstützt wird und es Aufgabe der Co-Moderatorin ist, die im Studio befindlichen Möbel den Zuschauern ansprechend zu präsentieren. Davon kann allerdings nicht im Geringsten die Rede sein, so dass der Absatz der Möbel in den nächsten Tagen wohl ziemlich in den Keller gegangen sein dürfte. Auch das Interview selbst verläuft etwas merkwürdig – neben den bereits bekannten Problemen der Dolmetscherin, verständlich zu übersetzen, macht auch der VJ keine sonderlich gute Figur: Nach dem er die Band gebeten hat, sich selber vorzustellen, bricht er die Runde nach der Hälfte ab um die bereits vorher interviewten DJs wieder vor die Kamera zu bitten. Sonderlich informativ scheint diese Sendung daher nicht ausgefallen zu sein. Nach Abschluss der Aufnahmen geht es zurück ins Hotel und nach einem Abendessen und einigen Getränken recht bald auf die Zimmer.

Donnerstag, 26.9.
An diesem Tag stehen hauptsächlich Presseinterviews auf dem Programm, für die nur ein Teil der Band benötigt werden, so dass sich nach dem Frühstück drei Bandmitglieder in die Büros von Universal Music begeben um dort Rede und Antwort zu stehen. Der Rest von Band und Crew verbringt den Tag mit allen möglichen Aktivitäten wie Einkaufstouren und Museumsbesuchen. Gegen 16.00 Uhr treffen wir uns alle wieder im Hotel, um nach einem kurzen Essen zur Filiale von Tower Records zu fahren, in der am Vortrag bereits die Pressekonferenz stattgefunden hatte. Heute steht eine Autogrammstunde auf dem Programm, als wir uns dem Laden nähern wird schnell klar, dass sämtliche Erzählungen der Band über ihre Erlebnisse in Mexico nicht nur Schwärmereien waren: Hunderte von Fans stehen in einer Schlange, die sich um den kompletten Block zieht, zur Autogrammstunde an und bereiten der Band einen begeisternden Empfang. Die ist denn auch für die folgenden Stunden vollauf ausgelastet um rund 400 Autogrammwünsche zu befriedigen. Clown Brozzo zeigt sich während der Autogrammstunde zwar nicht, einer der Fans aber, der In Extremo in dessen Sendung gesehen hat, bringt eine Tonfigur des Clowns mit, die ab sofort als Maskottchen die Band begleitet. Klar, dass In Extremo nach Ende der Autogrammstunde ziemlich erschöpft, aber auch völlig begeistert sind. Nachdem auch der letzte Fanwunsch erfüllt ist, geht es zu einem kurzen Abstecher in einen in der Nähe gelegenen Club, in dem es noch einige Cocktails (darunter den zweifellos weltbesten Margeritha) und Tequilas gibt (wobei sich das Personal als äußerst trinkfest erweist). Zurück im Hotel gibt es noch eine gemütliche Kostprobe der Erzeugnisse der örtlichen Anbaugebiete, nach deren Genuss sich auch die Letzten auf ihre Zimmer zurückziehen, geht es doch am nächsten Morgen gleich wieder früh los. Nach zwei mit Presse- und TV-Terminen vollgestopften Tagen stehen nun endlich die lang erwarteten Konzertauftritte der Band auf dem Programm. Die erste der beiden Shows findet im nördlich von Mexico City gelegenen Guadalajara statt, während bei der zweiten die mexikanische Hauptstadt selbst beehrt wird.

Freitag, 27.09.
Da Guadalajara circa zehn Stunden von Mexico City entfernt liegt, heißt es am morgen früh aufbrechen. Bereits um 7.00Uhr wartet der Bus vor dem Hotel, um eine größtenteils noch schlaftrunkene Reisegruppe aufzunehmen. Wie in solchen Fällen üblich, verzögert sich die Abfahrt, bis jeder auch wirklich mit Kaffee, Zigaretten und sonstigem versorgt ist, um eine gute halbe Stunde; dann endlich machen wir uns auf den Weg, die Hauptstadt zu verlassen. Im Vorfeld hatte es einige lange Diskussionen darüber gegeben, ob man nach dem Gig direkt wieder Richtung Mexico City abreisen oder nicht doch lieber ein paar Stunden Schlaf in einem Hotel in Guadalajara suchen sollte. Letztendlich fällt die Entscheidung, direkt nach dem Konzert die Rückreise anzutreten, worauf der örtliche Promoter verspricht, einen entsprechenden Bus zu besorgen, in dem es sich auch angenehm-gemütlich eine Runde schlafen lässt. Daraus wird allerdings nichts; mehr als einen stinknormalen Reisebus aufzutreiben, scheint in der Kürze der Zeit nicht möglich zu sein. Daher versuchen auch die meisten, zumindest bis zum ersten Zwischenstopp noch ein wenig Schlaf abzubekommen.
Durch die Vororte von Mexico City, die zwar sehr ärmlich aussehen, aber nicht den befürchteten Anblick südamerikanischer Slums bieten, geht es in das Umland der Stadt, eine nicht gerade mit üppiger Vegetation beschenkte Landschaft, die zudem alle paar hundert Meter eine neue wilde Müllkippe ziert. Nur in ganz wenigen Momenten erschließen sich hier ein paar wirklich schöne Perspektiven, und das auch erst, je weiter gegen Norden wir kommen.
Nach circa zwei Stunden legen wir die erste Pause an einer mexikanischen „Autobahnraststätte“ ein, einem kleinen Lebensmittel- und Getränkelädchen, in dem es das wohl beste Autobahnfrühstück aller Zeiten gibt – auf einer heißen Herdplatte geröstete, mit viel frischem Gemüse belegte und mit Käse überbackene Baguettes, die genau die richtige Grundlage nach der kurzen Nacht darstellen. Der Ruf nach den berühmten „mit leckerer, frischer Salmonellen-Mayonnaise bestrichenen“ Sandwiches, die es traditionell an deutschen Raststätten zu erstehen gibt, ist daher auch nicht ganz ernst zu nehmen. Das schönste Bild bietet aber der Verschlag, der sich eher schlecht als recht an die Station anlehnt, um nicht vollends in sich zusammenzufallen: darin hängt über einem Holzfeuer ein riesiger Kessel, in dem Schweineextremitäten ausgekocht werden. Ein appetitlicher Anblick.
Bis Guadalajara verläuft der Rest der Fahrt dann ohne größere Unterbrechungen, so dass wir ungefähr zum geplanten Zeitpunkt vor dem dortigen Hard Rock Café stehen, das sich in einem riesigen Einkaufszentrum befindet und über einen gesonderten, rund 800 Zuschauer fassenden Konzertsaal verfügt. Dieser dürfte sicher auch der einzige Konzertclub der Welt sein, der komplett mit Teppich ausgelegt ist, so dass das Personal einige Zeit damit beschäftigt ist, an allen Ecken und Enden des Raums Aschenbecher zu positionieren. Ob das wirklich geholfen hat, dürfte allerdings fraglich sein…
Nach Beendigung des Aufbaus und des Soundchecks gibt es erst einmal eine schlechte Nachricht: Die als Vorband eingeplanten Atrocity haben Probleme mit ihrem Flug gehabt und es daher nicht rechtzeitig geschafft, in Guadalajara einzutreffen. So heißt es für In Extremo, bereits früher auf die Bühne zu gehen, während Atrocity, die erst kurz vor Beginn der Show eintreffen, ihr Set danach absolvieren werden.
Bereits mehrere Stunden bevor die Türen geöffnet werden, warten unzählige Fans vor der Halle, so dass, als es endlich losgeht, das Hard Rock Café mit rund 600 Gästen mehr als gut gefüllt ist (dabei ist zu bedenken, dass die Ticketgebühren von 25 US-Dollar mit deutschen Preisen vergleichbar sind, während die Einkommensstruktur doch eine ganz andere ist. Ein Konzertbesuch ist für die meisten daher ein richtiger Luxus). Die Band wird enthusiastisch aufgenommen und liefert eine rundum gelungene Darbietung. Zwar zeigt sich das eine oder andere Mitglied anschließend nicht ganz so zufrieden mit der eigenen Performance, zu mäkeln gab es an diesem Auftritt aber nicht das Geringste.
Da bisher praktisch keine Zeit war, eine Essenspause einzulegen, begeben wir uns, nachdem die meisten eine Dusche genommen haben, in das neben dem Club gelegene Restaurant des Hard Rock Café, wo sich der Manager desselben ganz begeistert über das Gesehene äußert. So werden für die nächsten zwei, drei Stunden, die wir dort verbringen, zwei Servicekräfte alleine dafür abgestellt, unsere Runde beständig mit Tequila aus zwei Pitchern zu versorgen.
Zwischenzeitlich trifft eine weitere Hiobsbotschaft ein: Chad Smith, seines Zeichens Schlagzeuger der Red Hot Chili Peppers, war gerüchteweise zur Show erwartet worden, da er sich die Band unbedingt ansehen wollte. Dieses Vorhaben hatte er zwar auch wahrgemacht; weil In Extremo allerdings früher als geplant gespielt hatten, hatte Smith von ihrem Auftritt nichts mehr mitbekommen und war gleich wieder gegangen, nicht ohne jedoch anzukündigen, am nächsten Tag in Mexico City erneut seine Aufwartung zu machen, was die vorübergehend sehr gedrückte Stimmung dann doch wieder rettet.
Nachdem der Bus komplett beladen ist, geht es einige Stunden später zurück Richtung Mexico City, wo wir am nächsten Vormittag nach einer Fahrt ohne nennenswerte Zwischenfälle wohlbehalten eintreffen.

Samstag, 28.09.
Nach ein paar kurzen Stunden Schlaf im Hotel und einem Frühstück geht es gleich wieder in die nächste Halle: Circo Volador nennt sich der Auftrittsort des heutigen Abends, und gegenüber dem feinen, pieksauberen Hard Rock Café bietet sich hier ein völlig anderes Bild. Der Circo Volador ist ein veritabler Rockschuppen; in der Form eines Amphitheaters gebaut, eröffnet sich von allen Plätzen der Halle, die rund 4000 Personen fassen dürfte, ein perfekter Blick auf die große Bühne. Nach dem Soundcheck und dem Einspielen der Instrumente (das, nachdem insbesondere die Dudelsäcke unter der Hitze und der Reise ziemlich gelitten haben, eine ganze Weile dauert) gibt es eine Kleinigkeit zu essen. Danach ist für das Letzte Einhorn nähen angesagt – bei der Show am Vorabend hat das Bühnenkostüm doch den einen oder anderen Riss bekommen, den es jetzt zu flicken gilt. Zwischendurch, bevor die Pforten geöffnet werden, machen wir noch einen kurzen Ausflug nach draußen, wo nicht nur Hunderte Fans warten, sondern sich auch eine ansehnliche Anzahl an Bootleggern breit gemacht haben, die In Extremo-Shirts in den ausgefallensten Varianten anbieten. An der Band selber dürften sie am meisten verdient haben, will doch jeder zumindest eines dieser Shirts als Andenken mit nach Hause nehmen.
Der Saal füllt sich anschließend mit rund 1600 Anhängern, die bereits vor der Show einen Höllenlärm machen. Nachdem Atrocity das Publikum schon ein wenig angeheizt haben, explodiert die Stimmung, als In Extremo die Bühne betreten (lustiger Weise bricht der Jubel bereits beim Kinski-Intro, das die Band auch in Mexiko verwendet, aus, obwohl sicher kaum einer der Anwesenden etwas mit diesem auf Tape gebannten Wutanfall des Schauspielers anfangen kann). Die Gruppe ist in absoluter Höchstform und wird von den Zuschauern entsprechend gefeiert. Als ich mich eine Zeit lang im Fotograben vor der Bühne aufhalte, bekomme ich auch die ganz eigene Berufsauffassung des örtlichen Sicherheitspersonals mit – Stagediver werden, anders als hier zu Lande, nicht aufgefangen, sondern erst mal schön zu Boden gerissen, erhalten dann noch einen kleinen Tritt und werden danach unter wildem Geschrei beinahe aus dem Fotograben geprügelt. Sehr nett – den Fans scheint es allerdings wenig auszumachen, prasseln doch ständig irgendwelche Leiber vor der Bühne nieder.
Wie angekündigt erscheint auch Chad Smith, der das komplette Set mit Interesse verfolgt. Wie es scheint, haben In Extremo da wohl einen ganz prominenten Anhänger hinzugewonnen.
Nach dem Auftritt sind zwar alle durch die Bank äußerst erschöpft (die dünne, schlechte Luft macht insbesondere den Dudelsackspielern zu schaffen), aber mindestens ebenso gut gelaunt. Ein Teil der Formation entschließt sich, mit Herrn Smith noch einen Club zu besuchen, in dem für diesen ein gesonderter VIP-Bereich reserviert ist, während sich der Rest, dem auch ich mich anschließe, ins Hotel zurückkehrt, um sich dort nach einem letzten Getränk völlig erschlagen ins Bett zu begeben.

Sonntag, 29.09.
Der Tag des Abschieds. Einige Bandmitglieder hängen an dieses Mexiko-Abenteuer noch einen Urlaub dran, in dem es per Mietwagen in Richtung Acapulco geht, die anderen fliegen heute wieder zurück nach Deutschland. Wie um uns noch einen letzten Eindruck von Mexico City zu geben, findet an diesem Tag auf dem Parkgelände vor unserem Hotel ein riesiger Markt statt, auf dem es so ziemlich alles zu kaufen gibt, seien es nun Riesenfische, unbekannte Esswaren aller Art, Kleidung oder – wie sollte es auch anders sein – schwarz gebrannte DVDs und CDs in Hülle und Fülle. Ganze Familien scheinen hier ihr komplettes Wochenende zu verbringen und bevölkern die zahllosen Imbissstände, an denen von Säften über Obst bis zu Gegartem und Gegrilltem wirklich alles angeboten wird, was man sich nur vorstellen kann. Gegen Nachmittag geht es für uns zum Flughafen und zurück Richtung Europa, mit einer eindrucksvollen, ereignisreichen Woche im Gepäck, die wohl alle noch eine ganze Weile beschäftigt haben wird.
Wer ein paar weitere Impressionen dieser Reise genießen möchte, sollte sich unbedingt den tollen Zusammenschnitt auf der Live-DVD ansehen…
Zum Abschluss noch mal ein dickes Dankeschön an die Band, an Managerin Doro, die Crew, das Label und alle Mitreisenden und Beteiligten. Es war wirklich eine phantastische Woche mit euch!!!
(Arnulf Woock/ Orkus 01/02/ 2003)

Während ein Teil der Band und der Crew noch ein paar Tage Urlaub in Acapulco an die Woche in Mexico/ City ran hängte, flogen Reiner, Pymonte, Boris, Faren, Tino, unser „Vertretungstonmann“ Detlef, Arnulf vom „Orkus“ und ich zurück nach Deutschland. Unterdessen waren die Arbeiten an der DVD schon im Gange, man wartete nur noch auf die Rückkehr der Musiker und unserer Filmfrau Susa, um das Mexiko-Material zu sichten und die Tonaufnahmen zu reparieren und abzumischen.
Ich war unterdessen mit meiner Familie zu Freunden nach Singapur weitergeflogen und wollte mal 3 Wochen mit dem ganzen Theater nichts zu tun haben – kein Telefon, kein Mail, kein Handy. Und so aus der Ferne betrachtet, war die Arbeit doch gar nicht so schlimm! Ich hatte ohnehin keine Ahnung von den ganzen technischen Details – hier ist Basti unser Fachmann – und so hatte er sich den ganzen Stress aufgeladen…
Doch kaum zu Hause, brach das Chaos natürlich sofort wieder aus. Ich ließ mir von Doro die verschiedenen Entwürfe für die Cover schicken (DVD, CD und DVD/CD-Doppelpack) und musste feststellen, dass nicht nur die Credits der einzelnen Musiker fehlten, sondern sogar die Namen der Songs und der Musiker falsch geschrieben waren. Soviel Ignoranz war dann selbst mir Zuviel und nach einem ersten Tobsuchtsanfall schickte ich Berge von beleidigenden Mails durch die Welt. Wieder einmal kamen Ausreden im Dutzend: „…Fehler beim Umformatieren der Schrift“, „Dafür bin ich aber nicht zuständig!“, „Ich konnte das nicht entziffern!“, „…aber der Micha hat gesagt, das wird SO geschrieben!“.  Es ging wochenlang so hin und her und die Band war wirklich schlecht gelaunt und stinksauer über so viel Unfähigkeit. Keiner wollte Schuld haben und niemand fühlte sich zuständig. Einzig und allein die Filmcrew leistete wirklich gute Arbeit und auch das Material, das während der vergangenen Konzerte und in Mexiko mitgeschnitten wurde, war astrein.
Aber das war natürlich noch nicht alles: Die „Mercury“ versäumte anschließend sogar noch, den Auftrag für die englischen Untertitel und für das Umformatieren auf das amerikanische (und somit auch das mexikanische) NTSC-Format zu geben – sie rechneten ohnehin nur mit einem geringen Verkaufserfolg der DVD – und auch wir als Band hatten noch nicht noch mal die Möglichkeit bekommen, die DVD vor ihrem Erscheinen noch einmal durchzusehen.

“Eins ist klar: Die Sieben sind keine Virtuosen mit Sinn fürs Filigrane, sie ziehen den derb gerasterten, harten Rock der fingerfertigen Hochkultur vor.”
(Henning Richter, Hammer 1/03)

Selbst am offiziellen Erscheinungstag der DVD hatte die Band noch kein einziges Exemplar ihres eigenen Werkes in der Hand (Vielen Dank noch einmal an dieser Stelle!) und so fuhren wir kurzerhand zu „Saturn“ und kauften uns ein paar Exemplare. Erst in Hardenberg, an unserem ersten offiziellen Tourtag, erreichten uns zwei kleine Päckchen – unsere genehmigten 20 (!!!)Verkaufsexemplare. Wir setzten uns in den Tourbus und waren sprachlos, denn abgesehen von den immer noch vorhandenen Rechtschreibfehlern („…das kann erst bei der Nachauflage korrigiert werden!“) glänzte „Die Gier“ mit einer falschen Synchronisation!
Die Live-CD mussten wir uns ebenfalls im Laden kaufen und entdeckten dabei zufällig einen kleinen Zettel mit einer Code-Nummer, die dazu berechtigte, einen unveröffentlichten Track von unserer eigenen Internetseite herunterzuladen. Na so was – es gibt doch immer noch Überraschungen! Leider lagen diese Codes nur der Live-CD und nicht der limitierten DVD/CD-Doppelausgabe bei und die Beschwerden auf unserer Seite nahmen beängstigende Ausmaße an. Die Verantwortlichen für diese Meisterleistung waren unterdessen im „wohlverdienten“ Weihnachtsurlaub und für die Band damit nicht erreichbar. Doch genug davon!
Die DVD sprengte trotzdem alle Verkaufserwartungen der Plattenfirma, zumal sie bis auf ein paar kleine Anzeigen so gut wie gar nicht beworben wurde und so nach und nach gelang es uns auch, die Fehler auszubessern. Wir sind im Endeffekt trotzdem sehr zufrieden mit dem Ergebnis, konnten wir doch endlich auch einmal den für uns nicht ganz unwichtigen visuellen Aspekt der Band verewigen und auch dem Publikum einen kleinen Einblick hinter die Kulissen von In Extremo gewähren.

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