Am Ende der Nahrungskette

7.Kapitel: 2002 – Die Lebensbeichte

Wir mussten uns auch langsam wieder einmal einen Kopf über die Zukunft der Band machen, es hatte sich ohnehin eine ganze Menge Ärger angestaut. „Extratours“ und auch Doro als unserer Managerin waren der Meinung, dass es an der Zeit wäre, sich mit der Band in Deutschland etwas rarer zu machen und dass außerdem etwas „Aufbauarbeit“ im Ausland vonnöten wäre. Wir hatten ja eigentlich prinzipiell nichts dagegen, aber leider war es ja so, dass wir als Band immer noch fast ausschließlich, und das 5 Jahre nach dem Erscheinen unseres Debütalbums, von den Gagen der Live-Konzerte leben mussten. Was blieb den übrig von den vielen verkauften Platten? Im Endeffekt 6 % bzw. 5,25 % vom sogenannten „Händlerabgabepreis“, d.h. auf Deutsch: In Extremo als Band erhalten 6 % bzw. noch weniger von der Summe, für die ein Händler die CD von der Plattenfirma bekommt – in der Regel also vielleicht  6 % von 7,50 €. Alle Wetter! Und für im Ausland verkaufte Platten gibt es gar nur die Hälfte dieses unglaublichen Geldsegens. Doch damit natürlich noch nicht genug: Jede Band wird natürlich auch zur Hälfte an den Produktionskosten der Videos beteiligt und auch die Kosten für die Auslandsreisen (die ja bei uns mehr als heftig ins Kontor schlugen) sind Summen, die einem hinterher wieder vom berühmten „Lizenzkonto“ abgezogen werden. So kommt man als Band auch schnell mal in die Verlegenheit, einen 5stelligen Eurobetrag an Miesen vor sich herzutragen – das heißt, man kann Platten machen, soviel man will: Man verdient ohnehin nichts daran! Was für eine Perspektive! Sprüche wie „So wie ihr arbeitet möchte ich mal Urlaub machen!“ oder „Ihr habt es wohl nicht mehr nötig“ konnten einen da echt manchmal schon wütend werden lassen…
Wie auch immer: Heraus kam ein total zerstückelter Festival-Sommer, bei dem wir Wochenende für Wochenende für jeweils nur eine einzige Show im nicht gerade billigen Nightliner kilometerweit unterwegs waren und das eingespielte Geld so auch gleich wieder zum Fenster hinauswerfen durften. Und auch ein Management und eine Booking-Agentur arbeiten ja nicht umsonst, von der Crew einmal ganz abgesehen. Unsere Crew bestand mittlerweile aus 5 Personen. Den ganzen Rest, abzüglich der Kosten für die Pyrotechnik, dann geteilt durch 7 = Bruttosumme, abzüglich 30% Lohnsteuer, Krankenkasse und den ganzen Kladderadatsch, blieb vom großen Geldsegen nicht mehr viel übrig. Es wurde dringend mal Zeit für eine Rote Karte! Und so schrieb ich folgende Antwort-Mail zu den Plänen des Managements und denen unserer Agentur. Doch leider blieb die Ironie, wie so oft im Leben, dabei irgendwie unverstanden:

Geschätzte Kollegen! Dann möchte ich die freudige Erwartung unserer süddeutschen Freunde mal nicht im Übermaß strapazieren und möchte den Kettenbriefreigen hiermit für eröffnet erklären:
Da ich mich ja, wie ihr inzwischen ja alle wisst, bei In Extremo einigermaßen für die Pessimismus-Abteilung zuständig fühle, werde ich nun mal wieder meines Amtes walten und etwas auf die Euphorie-Bremse treten müssen. Nebenbei bemerkt ist es auch ziemlich schwierig, etwas Ironie in eine Mail zu legen, ohne es andauernd unterstreichen zu müssen, aber es kann sich ja jeder so seine eigenen Gedanken dazu machen.
Zuallererst möchte ich aber, bevor ich meine Meinung zu einigen Punkten hier kundtun möchte, sagen, dass ich selbst nicht ganz so genau weiß, wo denn nun In Extremo im hiesigen Kulturschaffen einzuordnen sind und welchen Stellenwert wir haben. Wenn ich manchmal die Meinungen im Umkreis der Band so höre, dann habe ich den Eindruck, man handelt uns hier in der Liga Böhse Onkelz, Ärzte und Tote Hosen als Nr. 4 – übrigens sehr  zu Unrecht, wenn ich diese Meinung dann mit meinem Kontoauszug vergleiche! Also, ein bisschen Pessimismus meinerseits tut hier wohl dringend Not. Ich habe echt immer ein Problem damit, wenn wie in unserem Falle, über „Aufbauarbeit“ nachgedacht wird – okay, Ihr habt in diesem Falle bezüglich des Auslandes sicherlich recht, aber mein Gott – wir gehen mittlerweile auch schwer auf die 40  zu und da liegen mir solche Vokabeln schwer im Magen. Wir bräuchten keine „Aufbauarbeit“ sondern eher ein „Aufbaushampoo“… Ich werde auch heute noch eine Kassette mit selbstkomponierten Liedern losschicken, um uns schon mal für das nächste Emergenza-Nachwuchsfestival anzumelden.
Okay, das sollte Ironie sein, aber was tun in Deutschland??? Um mal ernst zu bleiben: Vom diesjährigen Monat Juni bin ich echt enttäuscht, was das Booking angeht (4 Einzelshows – Hurra!). Das ist für mich eher kontraproduktiv. Okay, ich habe da sowieso eine andere Meinung, was die Frage des „Rarmachens“ angeht, da konnten mich Eure Argumente bisher trotz allem noch nicht so 100%ig überzeugen – aber da stehe ich in der Band wohl auch auf einsamen Posten. Aber ich möchte mal Peters kleine Rechnung zu Fürth die Abrechnung vom Kyffhäuser-Konzert gegenüberstellen, da waren ja dann noch 300 Personen mehr als die Fürther Kapazität. Also:
Gesamteinnahme: 10.600 €! Jetzt wird’s aber spannend: minus Märchensteuer, minus Provision Agentur, minus Hotelkosten, minus LKW, minus Sleepliner für 2 Tage und minus unserem technischen Bodenpersonal (8 Personen) konnte ich summa summarum jedem „Popstar“ 500 €  auszahlen. Wahnsinn! Wenn wir von dieser Sorte Konzerten im nächsten Jahr 20 Shows machen, (Achtung Milchmädchenrechnung), dann verdient jeder Musiker 20 x 500 € = 10.000 € im Jahr! Brutto! Wahnsinn!!! Nur mal so nebenbei: Bei meiner letzten ABM-Stelle anno dazumal kam unterm Strich ungefähr das Doppelte heraus. Und was das Beste war: Die  Lohnsteuer und die Krankenkasse waren sogar schon abgezogen!
Vielleicht könnt Ihr ja, trotz Ironie, nachvollziehen, dass sich meine Euphorie für unsere Zukunft doch etwas in Grenzen hält! Ich kann irgendwie nicht mehr so recht an den Weihnachtsmann glauben. Da stellt sich dann die Frage: Was tun? Zum einen kann man das Musikgeschäft selbst für ein beschissenes Geschäft halten, zum anderen aber auch den Job als Musiker an sich. Ich habe mir hier im Laufe der  Jahre eine ganze Menge abgeschminkt und die Märchenstunden von unseren Plattenfirmen gehen mir auch nicht mehr so nah!
Das Fazit eines wohl suizidgefährdeten Musikers: Wir haben in den vergangenen Jahren sechs CDs vorgelegt und leben immer noch ausschließlich von den ersten beiden Selbstgepressten!!! Unser Defizit bei den anderen Platten beträgt 67.374,61 € (Siebenundsechszigtausenddreihundertundvierundsiebzigkommasechseins).
Das ist das einzige Argument, welches mir zu „unserem Stand in Deutschland“  gerade einfällt! Das ist gewiss nicht eure Aufgabe, aber es gehört zu unserer Gesamtsituation natürlich schon mit dazu. Wäre noch das Merchandising als Einnahmequelle zu erwähnen: Blöderweise ist hier gerade die Steuerprüfung zu Gange und als alter Pessimist mal eine Zahl nebenher: Statistisch gesehen fördern Steuerprüfer pro Abrechnungsjahr bei Klein- und Kleinstunternehmern noch 25.000,00 € zutage! Gott sei Dank liegen uns ja Statistiken als Musiker fern. „Mensch Junge, hätt´ste doch ´n anständijen Beruf jelernt oder den kleen Zeitungskiosk anne Ecke übernomm´!“
Na, Hauptsache Echo-Nominierung! Ich werde mir das nächste Mal auf der Schulterseite, auf welche die Kollegen immer klopfen, ein paar Kontoauszüge in Form eines Abreißkalenders befestigen. Aber mal im Ernst: Muss man einen R 4 fahren und in die Dachkammer der Schwiegermutter einziehen, um bei In Extremo spielen zu dürfen???

Die Kritik verhallte irgendwie ungehört. Aber zumindest wir als Band In Extremo hatten uns nun endlich einmal dazu durchgerungen, das Thema Geld an sich auf die Prioritätenliste zu setzen. Über Geld redet man unter Musikern ja nicht, oder es scheint irgendwie uncool zu sein. Und welcher Musiker beschäftigt sich denn schon ernsthaft mit Verträgen? Und wie viele haben überhaupt das verstanden, was sie da unterschrieben haben? Entweder man spielt ein Instrument oder man ist Anwalt! Irgendwie waren auch wir nun an dem Punkt angelangt, an dem man unweigerlich mitbekam, dass wir als die eigentlichen Macher der Musik immer ganz hinten am Ende der Nahrungskette angesiedelt waren: Man verkauft CD um CD und absurderweise steigt eben genau jener Schuldenberg parallel zu den Verkaufszahlen. Das würden wir ändern, wenn auch spät, so jedoch noch nicht zu spät!
Dann brach auch schon wieder der besagte Festival-Sommer an und los ging es  mit dem skurillsten  Auftritt überhaupt. Die Macher des „LARP“-Festivals, des größten europäischen Rollenspiel-Events überhaupt, hatten uns zu einem Konzert ins kleine Dörfchen Westernohe, mitten im tiefsten Westerwald, eingeladen. Wohin man blickte gummikeulen- und was-weiß-ich-nicht-alles schwingende Irre, die sich am Nachmittag im Wald mit 2000 Kämpfern eine riesige Schlacht lieferten. Wir waren schwerstens begeistert, denn zum ersten Mal waren wir nicht die einzigen Kostümierten. Abends zum Konzert mussten allerdings die Waffen abgegeben werden, Schade, aber für uns war das Ganze mit Sicherheit ein riesiges und unvergessliches Erlebnis: Es freut einen doch immer wieder, dass es neben uns auch noch eine ganze Reihe anderer Verrückter gibt – vor allem in solch großer Anzahl.
Dann ging es weiter: Zum Münchener „Tollwood Festival“ (zusammen mit Subway To Sally), ins luxemburgische Useldange, nach Belgien zum „Graspop Metal Meeting“, nach Aschaffenburg, zum „With Full Force“ in die Nähe von Leipzig, zum traditionellen Akustik-Konzert auf das Schloss Wäscherburg (dieses Mal sogar 2 Tage hintereinander), nach Holland zum „Bospop“, wieder einmal zum „Taubertal Festival“ (mit den Beatsteaks, Son Goku & Thomas D. und Heather Nova), zum „Castle Rock“ nach Mühlheim, zum einem unglaublichen Wald- und Wiesen-Festival nach Lottstetten im wirklich allerallerletzten Zipfel der Republik, auf die Burg Veldenstein, zum einzigen Mittelaltermarkt der Saison auf die Runneburg zum „W:O:A“ nach Wacken, zum Gößnitz Open Air, ins Prattelner Z 7 in die Schweiz, zum „M´era Luna“ nach Hildesheim, zum absoluten Höhepunkt der Saison, dem „Highfield Festival“ (mit Filter und Korn), nach Worms und schließlich in den Hyde Park nach Osnabrück. Nach diesem Konzert erreichte uns der folgende Kommentar:

„Endlich war es soweit: In Extremo! Auf diese Band hatten alle gewartet. Oft haben wir sie schon gesehen und wir hofften, ein bisschen mittanzen zu können. Nach einen f(e)uriosen mit Flammenorgel und irrem Scheinwerferlicht kamen die sieben Vaganten und begrüßten Osnabrück in einer übertriebenen Lautstärke! Das sollte leider auch das ganze Konzert über so bleiben! Etliche Fans hatten so ihre Schwierigkeiten, wenn man nur Melodiebögen in Ansätzen hört, aber Texte nicht verstehen kann. Ok, die meisten kennt man ja, oder? Die Band spielte mehrere Stücke des „Sünder ohne Zügel“-Albums relativ lustlos herunter. Tempiwechsel und Lautstärke fingen an zu nerven. Was war mit den Jungs los? Zuviel getourt? Ein wenig müde sahen sie aus, teilweise gar nicht wirklich bei der Sache. Dr. Pymonte fotografierte minutenlang in die Menge und musste sich auf den Blitz konzentrieren. Was sollte das? (…) Dann kamen die „Merseburger Zaubersprüche“ – doch ach, in neuer, nicht tanzbarer Version – Mist! Aber dann „Herr Mannelig“ – endlich! Aber auch der Titel wurde durch langes Mitsingenlassen des Publikums zerrissen, dasselbe gleich darauf „Spielmannsfluch“… es war zum Heulen. Endlich das einzige wirklich tolle Stück in gewohnter In Extremo-Manier: „Vollmond“ – immerhin nur kurzes Mitsingen. Das war es dann mit den Knüllern. Nun hieß es In Extremo goes Rammstein. Ihr niederländischer Gitarrenneuzugang bretterte alles nieder und auch Fronter Michi griff zur Gitarre – Erbarmen. Es folgten Stücke, die mit In Extremo so viel zu tun hatten wie Schweine mit Säbelfechten…“
(Kurt Mitzkatis, Vorsitzender des German Rock e.V.)

Da hatte wohl jemand etwas gegen das Mitsingen… Na ja, zugegebenermaßen spielten wir nicht gern im Hyde Park – der Sound dort erinnerte einen immer an die Bahnhofsdurchsagen am Alexanderplatz und der große Backstage-Raum hat den Charme meines alten Kohlenkellers, zumal wenn man sich diesen noch mit 3 anderen Bands teilen muss. Da ist man dann gern mal sarkastisch und schaukelt sich gegenseitig hoch, zumal Dr. Pymonte ein neues Spielzeug mit an Bord hatte: eine Digitalkamera!
Aber auch unser Konzert auf dem „Highfield“ hatte noch ein klitzekleines Nachspiel, das sich aber durch eine Zahlung vom 348,00 € inklusive Mehrwertsteuer aus der Welt schaffen ließ. Das waren die Reinigungskosten, die wir wegen des Abschusses unserer Konfettikanone bei „Vollmond“ zu zahlen hatten. „Jungs, wehe ihr schießt heute Abend irgendwelche Flitterkanonen ab – wir kriegen einen Höllenärger deswegen. Außerdem haben wir Korn auch sämtliche Effekte verboten!“ Na ja, Korn eben. Beim Abschuss unserer Kanone konnte ich schließlich aus den Augenwinkeln beobachten, wie der Tourmanager von Korn nach Luft rang und dem Herzinfarkt anscheinend sehr nah war. Jedenfalls war eigentlich er es, der uns anschließend bei den Veranstaltern verpetzte.
Es ging weiter zum „2 Days A Week“ nach Wiesen in Österreich (u.a. mit Sick Of It All und Slipknot), nach Andernach und zum Abschlusskonzert nach Bergneustadt. Habe ich was vergessen? Nein! Ich muss ja nicht betonen, dass der Sommerurlaub (mal wieder) nicht stattfinden konnte.
In den Folgemonaten hatten wir uns eine Pause verordnet und wollten, bis auf den kurzen Abstecher nach Mexiko und unsere obligatorische Weihnachtstournee, keine weiteren Konzerte mehr geben. Wir hatten ja auch noch mehr als genug zu tun: Für die nächste CD mussten noch ein paar Songs geschrieben und in den münsterländischen „Pricipal-Studios“ regelmäßig vorproduziert werden und dann mussten auch noch die Tonaufnahmen für die DVD repariert werden, um einen halbwegs vernünftigen Sound zu haben. Da war wohl einiges schiefgelaufen. Ganz abgesehen davon fehlten ja auch noch ein paar Schmankerl, wir wollten ja nicht einfach nur so einen Konzertmitschnitt in die Läden stellen. Doch erst einmal ging es nach Mexiko, wenn auch in diesem Jahr nur für ein paar Tage – aber ein Teil der Band hing noch eine Woche Urlaub hinten mit dran. Als Gast hatten wir bei dieser kurzen Tour Arnulf Woock vom „Orkus“ mit dabei.

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