In Extremo vs. Substyle – von Substyle

4.Kapitel: 1999 – Und alles wird ganz anders!

Das Wetter in Hamburg fühlt sich wie so oft überhaupt nicht nach Rock´n´Roll an, als unsere Kolonne aus Miet- und Privatwagen die letzten Meter auf die Markthalle zusteuern. Ganz im Gegensatz dazu wir. Heute können wir zum ersten Mal einen noch größeren Schritt als zuvor in unserer zu diesem Zeitpunkt noch jungen Bandkarriere machen. Wie die vielbemühte Jungfrau zum Kind sind wir sehr kurzfristig und überraschend ab heute zur offiziellen Supportband von In Extremo ernannt worden. Wir, die fünf SUBSTYLEr gestehen es hiermit offiziell: unser Leben hatte vorher völlig ohne die Existenz dieser Band oder gar Musikrichtung stattgefunden. Nicht aus Ignoranz oder Abneigung, einfach aus schlichter Unkenntnis. Das sollte sich nun ändern. Vor uns (wissend) ca. 30 Konzerte in Hallen, die wir bis dato nur mit gekauftem Ticket von innen gesehen hatten. Außerdem noch ca. 40 weitere, von denen wir erst später erfahren sollten. Dann auch noch Tourauftakt Hamburg. Wow. Mein persönlicher Favourite, da ich seit vielen Jahren Hamburg als meine heimliche Liebe in mir trage und regelmäßig geilste Abende mit Hamburger Freunden verbracht habe. Z.B. in ebenjener Markthalle. Neurosis live. Unglaublich. Höre nun beim Betreten der weitläufigen Eingangsarea noch die letzten Gitarrengewitter und Drumexplosionen von damals verhallen. Was für ein Schnitt. Die Tür geht auf. Herzklopfen. Fragezeichen. Im Dunkel des eigentlichen Auftrittsraums mehrere imposante bis angsteinflößende Gestalten verteilt auf den kolosseumartig angeordneten Stufen sitzend. Ein Flash aus Eindrücken, die leere Halle, die leere GROSSE Halle, Respekt, Angst, Vorfreude und das unglaublich gute Gefühl, dass wir hier wirklich heute spielen werden. Der erste „Kontakt“: Tino, seinerzeit „FOH-Mann“ (der am Mischpult mit den unzähligen Instrumenten auf noch mehr Kanälen) begrüßt uns sofort sehr herzlich und grünbehaart. Schnell stoßen weitere In Extremos und Crewmitglieder hinzu und außer vor Dr. Pymonte hab´ ich auch erst mal keinen Schiss mehr. Das kann ja nur bestens werden.
Fünf Minuten vor Showtime sagt mein Magen-Darm-Trakt etwas ganz anderes. Das kennt man ja nach Hunderttausenden Kilometern und Hunderten von Gigs. Die Größe des Clubs spielt dabei keine wirkliche Rolle. Denke ich. Lampenfieber halt. Denke ich. Nachdem ich kurz den Backstage-Vorhang beiseitegeschoben und einen wabernden, verlangenden Klumpen aus ca. 1500 In Extremo-Fans gesehen habe, merke ich, dass ich falsch liege. In Punkto Schiss haben geht da noch Einiges. Zum Glück empfindet Guido, unser Frontmann, anders, oder aber er zeigt es in keinster Weise. Unbeirrt zieht er einen Fan nach dem anderen in seinen Bann und vereinigt uns mit der Meute durch sein Powerorgan, das sich von unendlich einfühlsam bis zum totalen Gebrüll entfaltet. Jetzt ist der SUBSTYLE-Motor wieder gestartet, und wir bahnen uns unseren Weg auf der Straße zum Tempel des Rocks. Die Anspannung geht auf in diesem einzigartigen Energiefluss der sofort zwischen uns und den Fans „der Anderen“ da ist. Es zündet. Wir werden nicht nur geduldet, wow, man mag uns. Dumm gelaufen mit den zu spät gepressten Demo-CDs. Aber Touren macht erfinderisch und so verkaufen wir am ersten Abend etliche CDs gegen Zettel mit Adresse, wissend, dass in vier Tagen Off Days und wir danach gut bestückt mit unserem Demo sind.
Spätestens nach diesem ersten Gig hat jeder von uns Blut geleckt. Es gibt einfach kein besseres Gefühl, als wenn Angst, Vorfreude und Anspannung jedes Mal wieder von neuem kurz vor Auftritt diese mystische Metamorphose eingehen und in wenigen Augenblicken etwas entstehen lassen, was von der Intensität und dem „Kick“ her nicht wirklich zu vergleichen sind.
Die nächsten Tourtage verbringen wir im ständigen Wechsel zwischen den beiden großen E´s: totaler Erschöpfung und ungebremster Euphorie. Auch wenn wir fast täglich dazu eingeladen werden, im Nightliner unserer „Arbeitgeber“ mitzufahren, ziehen wir tapfer unsere Wohnmobilnummer durch. Da soll noch mal jemand sagen, man könne nicht mit sechs ausgewachsenen (leider nicht sehr oft ausgewaschenen) Erwachsenen in einem Wohnmobil leben: es geht, unter unvorstellbaren Qualen, gerade olfaktorischer Natur. Und nur, wenn man sich wirklich lieb hat. Nach sieben Tagen, ca. fünfzig Pisspausen pro Anfahrt, permanenter geistiger und körperlicher Inkontinenz, reicht ein (wiedermal) mit fast blinder Sicherheit in Gesichtsnähe platzierter Socken aus und keiner hat sich mehr lieb. Man geht aufeinander (in Punkto Socken: auf Sebastian) los, fetzt sich schnell und uneffektiv, um dann die nächsten 500 Kilometer wie gewohnt trinkend, rauchend, rockend und grinsend den gemeinsamen Traum zu genießen. Jeder spielt seine Rolle in unserem lustigen kleinen Rock´n´Roll-Spielfilm. Guido, abends souveräner Unterhalter auf der Bühne, zeigt erstaunliche Fähigkeiten in Punkto routing und umfährt für uns alle mit unglaublicher Sicherheit jeden gemeldeten Stau. Wenn er nicht fahren muss, kümmert er sich rührend um denjenigen, der bei der neuerlichen Fahrerwahl die Arschkarte gezogen hat und bildet einen Schutzwall zwischen halbkonzentrierter Fahrerkabine und dem tosenden Armageddon aus umfallenden Flaschen, Eimern, Instrumenten oder Sebastians im Hinteren des Wohnmobils. Mit jedem gefahrenen Kilometer werden unsere Sinne für Primärreize geschärft. Wie schon unsere felltragenden Vorfahren perfektionieren wir unsere Jäger- und Sammlertechniken. Während der eine Teil der Band sich von Autobahntankstelle zu Autohof hangelt, immer auf der Suche nach dem nächstniedrigeren Bierpreis (ungeschlagen: Autobahnrastplatz kurz vor Berlin an der A2: Pilsator, 0,5 Liter-Dose für sagenhafte € 0,49,-), tummelt sich der andere Teil in jeder Stadt von neuem im Halbwelt- und Halbhirnmilieu, auf der Suche nach weniger Hopfen und mehr Hanf. Selbst als irgendwann im Gewühl ein Zivilpolizist in die illegale Suche mit einbezogen wird, passiert erstaunlich wenig, nämlich gar nichts und man wird ganz schnell eins mit dem Dunkel der Nacht…
Überhaupt Thema „Sammeln“: was man mit sechs Leuten noch so alles sammelt: David, unser Basser z.B. sammelt am allerliebsten Punkte. Die kleinen, Flensburger, die man so leicht auf deutschen BAB´s geschenkt bekommt. Davon hat er ´nen ganzen Schrank voll. Heiwi, unser Guitarrero und Bandmotor sammelt des Nächtens oft und gerne Stimmen um sich herum. Die ihn, alleine durch dunkle leere Korridore aus immer gleichen Silhouetten von Licht und Fahrbahnmarkierungen steuernd, einlullen, in ein Gespräch verwickeln und liebevoll umsorgen, während ich im Bett über dem Fahrersitz versuche zu verdrängen, dass unser Pilot den Weg von imaginären kleinen Freunden eingeflüstert bekommt. Lästig ist nur diese eine, penetrante Mädchenstimme, die immer das letzte Wort haben muss. Ich klopfe wütend mit dem Fuß gegen meine Unterlage und sofort verstummt sie. Das Rauschen der Reifen in den Ohren werde ich endlich vom Schlaf geholt.
Geweckt werden wir alle unsanft, weil eine von Heiwis Stimmen total pennt. Er selber ist schon seit 200 Kilometern selig entschlummert und hatte natürlich – ganz verantwortungsvoll wie er ist – die dritte männliche Hauptstimme damit beauftragt, Wache zu halten und den Wagen zu lenken, leider jedoch hatte er vergessen, dass ebendiese Stimme für nachts gänzlich ungeeignet ist, da sie bei WDR4-Musik permanent einschläft. So geschehen finden wir alle uns auf einem Menschenhaufen am Boden des Wohnmobils wieder, wo wir, die einzelnen verschlungenen Gliedmaßen ihren Besitzern zuordnend, einen völlig verschreckten Heiwi auf dem Fahrersitz hochschrecken sehen, der wie wir und alle  Augenpaare im gerammten In Extremo-Nightliner völlig fassungslos nach gegenüber schaut. Dass der einzige Unfall nach langen Fahrtstunden auf einem stadiongroßen, leeren Parkplatz mit exakt einem anderen geparkten, na ja – „Auto“, passiert, habe ich seinerzeit versprochen niemandem je zu erzählen – never trust a man…
Gerne würde ich alle Anekdoten zum Besten geben, aber dafür ist in diesem Rahmen nur begrenzt Platz und – viel wichtiger – es hätte einen nüchternen, objektiven Betrachter geben müssen, der sich an alles erinnert. Ich erinnere mich indes nur daran, warum ich mich nicht erinnere…
Was nach unserem Zusammentreffen mit In Extremo musikalisch und „businesstechnisch“ passierte, ist eine Sache. Wir haben noch eine Tour supportet. Und noch eine. Und jeden Abend Managerin Doro, wie auch wir natürlich wussten, Inhaberin eines Plattenlabels, genervt. „Komm Doro, jetzt gib´ uns schon den Deal. Nur einen…“ Standardantwort: „Jungs, Ihr rockt ja cool, aber ihr seht so scheiße aus… Außerdem keine Zeit, kein Geld…“ Ha! Hat man ja gesehen. „On The Rocks“ war ein halbes Jahr später fertig.
Was aber auf menschlicher Ebene passiert ist, hat, und da kann ich wohl für alle SUBSTYLEr reden, so noch keiner von uns erlebt. Immerhin sind mit uns und In Extremo in vielerlei Hinsicht erst einmal Welten aufeinandergeprallt. Ganz klischeehaft gesprochen: Ost-West, Alter, musikalischer Background, Bühnenerfahrung, tausend Dinge, aus denen oft unendliche Probleme resultieren, ergänzten sich in dieser ganz eigenen Mixtur aus Musikern, Technikern, man nahm uns unter die Fittiche, und wir alle waren froh und erstaunt, wie unkompliziert Menschen miteinander auskommen können. Weit und breit kein Stargehabe, jedes einzelne Bandmitglied war immer da für uns. Und nicht nur das. So war es auch für Carsten, den „Chauffeur“ der Band keine Frage, uns jederzeit die besten Strecken mitzuteilen oder gar komplett ins Schlepptau zu nehmen, wenn wir nachts durch leere Landstriche in tiefstem Neuschnee (natürlich mit blanken Sommerreifen) fahren mussten. Oder Puck am Merchandise: ist es bei anderen Bands doch oft üblich, dass die Vorband gar keine Artikel verkaufen darf, so übernahm er zeitweilig sogar den Verkauf unserer CDs. Auch die Licht- und Feuer-Crew war jederzeit gerne bereit, uns kostenlos den einen oder anderen Effekt zukommen zu lassen und unsere Shows auch für uns ganz neu zu gestalten. Ein besonderer Dank gilt dabei Grufti, der selbst während unserer Studioaufnahmen in Berlin noch extra für uns einen Abend mit leckerstem Selbstgekochten ausgerichtet hat. Abgesehen natürlich von seiner allabendlichen, sehr intensiven Lightshow, bei der wir alle den Eindruck nicht loswerden konnten, dass Basser David immer im besten Licht erstrahlte…
Inzwischen haben sich die „Lager“ verflochten und wir haben nicht nur einen Großteil des In Extremo-Equipments geerbt, sondern quasi noch als Bonus Michi, seines Zeichens IE-Backliner, dazubekommen. Dieser hat uns so unzählige Male bei, vor und nach den Shows geholfen, und ich meine: GEHOLFEN! Ob er dies gemacht hat, weil er uns so lieb hat oder weil er einfach nicht ertragen konnte, dass eine Rockband Geld für Bier ausgibt, aber ihr Handwerkszeug in Plustüten und Jutesäcken über die Bühne schleift. Michi hatte irgendwann eh keine Lust mehr, dabei zuzusehen, wie wir unser Zeug Abend für Abend ramponierten. Und da er sich irgendwie verpflichtet fühlte, alles am nächsten Tag zu reparieren, nahm er gleich lieber alles selber in die Hand und ersparte sich so unnütze Reparaturzeit. Mit dem tollen Nebeneffekt für uns, dass wir technisch zum ersten Mal in unserer Karriere überhaupt annähernd streitfähig waren.
Wir haben auf diesen Touren gelernt, warum wir machen, was wir machen. Weil es egal ist, ob du in einem Bett oder auf dem Beifahrersitz von einem Wohnmobil pennst. Weil es egal ist, ob dein Bett in Bad Salzungen oder Waldfeucht steht. Weil wir froh sind, nach Hause zu kommen, wenn wir lange unterwegs waren. Weil wir aber in Wirklichkeit erst  wieder nach Hause kommen, wenn es wieder im Mietmobil nach Irgendwo geht. Wenn man sich nach Monaten mit minimalem bis gar keinem Kontakt einfach wieder in die Arme schließt, ein Bier zusammen köpft und alles so ist, wie es sein soll. Keiner muss irgendwas von dem erklären, was unsere Süßen zu Hause nie verstehen können, weil man dieses Zigeunerleben kennen und lieben muss um nicht daran zu verrecken. Aber dann, in irgendeinem versifften, eddingveredelten Backstageraum (wetten, Pyogenesis und Die Happy waren schon mindestens fünfmal da?), weiß man wieder, dass man bei der Familie ist. Eine zugegebenermaßen sehr freizügige, tolerante, launische Familie. Aber eine, die immer da ist, wenn man sie braucht. Und erst recht, wenn nicht…
(Tobias Schellin/ Substyle)

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