Freygang oder: Was soll ein armer Junge anderes tun als in einer Rock’n’ Roll-Band zu spielen?

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Steil & Geil – Freygang (Steil & Geil/1986/1996)

Meine Geschichte mit Freygang beginnt irgendwann im Nebel der Endsiebziger, in denen Institutionen mit Namen wie KAG Tanzmusik und diverse Einstufungskommissionen noch Hof hielten, unsere Unermesslichkeit König Erich H. noch rauschende Parteitage abhielt und Chemnitz noch Karl-Marx-Stadt hieß. Ich sitze mit meinen 15 Jahren in der heilen Welt eines Ostneubaugebietes am Stadtrand von Potsdam, übe Gitarre und höre im Radio fremde Botschaften aus einer anderen Welt.
Freygang spielen heute Abend in Teltow! Und so stießen mich meine langhaarigen Freunde dann in den 13.00 Uhr – Bus. Eine halbe Stunde später traf ich vor der geschlossenen Kneipentür auf eine nicht angemeldete Demonstration von ca. 500 Personen, die sich die letzten 5 Stunden vor dem Einlass mit „Blauem Würger“ oder ähnlichem Gesöff die Zeit vertrieben und schon mal visuelle Wartemarken vergaben: Du wirst es wahrscheinlich heute nicht mehr bis hierher schaffen, Kleiner! Die Chancen für den offiziellen Einlass schwanden mit jedem Schluck, da blieb also nur noch die altbewährte Methode: Mit einer leere Flasche das Scheißhausfenster zertrümmern, von innen mit zwei Mann die Tür sichern und rein! Wir schreiben den Februar 1981.
Und dann? Ich sah und hörte die schlechteste Band der Welt, die heute Abend ausgerechnet noch über die schlechteste Anlage der Welt spielen musste, ich sah hunderte Barfüßige, die im Kreis um Hirschbeutel sprangen und Kellner, die mit den Bestellungen nicht mehr hinterher kamen. Und an diesem Ort wurde das Bier nur trommelweise ausgeschenkt, es wurden keine Gefangenen gemacht. Das sollte also ein Abend mit Freygang werden!
Ich stellte mich also direkt vor die Bühne, weil das ohnehin die einzige Chance war, überhaupt irgendetwas von der Musik mitzukriegen (im Übrigen funktionierte eine Seite der Anlage sowieso nicht, aber das war den Leuten hier scheinbar egal). Und dann verstand ich etwas, zuerst ganz, ganz leise und dann immer eindringlicher. Erst viel später merkte ich, um was es hier ging: Da war eine einzigartige Verbindung zwischen Band und Publikum, da waren Texte, die weitab von der offiziellen DDR- Kultur auf DT 64 und der Westberliner  RIAS-Hitparade waren und erst recht kilometerweit von der schwülstig-klebrigen Scheiße der professionellen DDR-Kapellen. Hier wurden nicht Lieder wie „Tritt ein in den Dom“ oder „Perlenfischer“ künstlerisch wertvoll interpretiert, sondern es gab mit Songs wie „Halte durch, es wird Winter“ gleich etwas direkt in die Fresse. Es gab keine verklausulierten Halbbotschaften, sondern einfach: Die Wahrheit! Und irgendwann wurde ich an diesem Abend mit der Freygang-Seuche infiziert.

Mit diesem Makel behaftet begab ich mich ein Jahr später dann zu einem ernsthaften Studium der Musik nach Berlin und damit auch unter die Obhut ebenso künstlerisch-wertvoller Geschmackszensoren. Ich durfte in „Amateurformationen der Sonderklasse“ spielen und mich glücklich schätzen, denn ich war ein Auserwählter, denn ich würde nach dem Studium die Pappe in der Hand haben, diesen Ausweis, der zum Musizieren in Berufskapellen berechtigte und welcher der Schlüssel zum süßen Leben war. Eine eigene Steuernummer als Selbständiger! Doch so wollte ich nicht enden, ich wollte mich nicht verbiegen. Ich würde niemals mein Gewissen gegen einen Reisepass eintauschen!
Dann ein Geheimtipp, denn irgendjemand gab mir die Telefonnummer von irgendjemanden, der die Telefonnummer des Sängers der sagenumwobenen Band Freygang hatte. Sie würden einen Bassisten suchen. Eventuell. War das ein Glücksfall? Oder vielmehr die Eintrittskarte ins Waterloo?
„Welcome To The Other Side“: Die Band hatte gerade ihr Spielverbot auf Lebenszeit erhalten, wollte aber trotzdem weitermachen. Rosige Aussichten für mich. Mit dem Hinweis auf das Spielverbot und Konzerte, die in der Zukunft natürlich ausschließlich im Underground und außerdem unter anderem Namen stattfinden könnten, landete ich also bei Freygang – erst einmal als Aushilfe, denn der eigentliche Bassist musste zur gleichen Zeit eine mehrjährige Haftstrafe wegen Devisenhandels in Rummelsburg absitzen. Das war sie also, die andere Seite! Besonders rosig sah es hier nicht aus, aber immerhin roch es nach Abenteuer.
Besser als nichts – gebt mir erst mal ein Jahr! Leider verstrich es, mit nur einem einzigen Auftritt anlässlich des Faschings der Humboldt-Universität auf einem Ausflugsdampfer, ziemlich ereignislos und auch wenig spektakulär. Wie lange war eigentlich „lebenslänglich“?
Nach zähem Kampf erreichte die Band Anfang 1985 schließlich, mit getürkten Texten in einer etwas netteren Version für die Götter aus der Einstufungskommission, dass sie eine begrenzte Spielerlaubnis für ein halbes Jahr bekam, wenn auch nur unter besonderen Auflagen. Eine davon war, dass wir nur Konzerte im sogenannten „Sputnikbereich“ geben durften (so wurde die alte Ringbahn um Berlin genannt). Mit dieser Formulierung  waren wir natürlich mehr als einverstanden: Der sowjetische Sputnik flog schließlich grenzenlos quer durch das Weltall, wer sollte uns also daran hindern, in Leipzig aufzutreten?
Dieses Konzert, vor 3000 Zuhörern in der alten Kongresshalle, war endgültig die Feuertaufe der „neuen“ Freygang-Besetzung. Ein Teil der alten Besetzung hatte inzwischen ihre Ausreise in den Westen genehmigt bekommen – und wir spielten vor 3000 fanatischen Zuschauern! Und das alles ohne Ankündigung, ohne ein einziges Plakat! Alles lief über Mundpropaganda und über kleine Terminkalender, welche die Blueskunden immer griffbereit in ihren Parkas mit sich herumtrugen! Ich glaube, ich hatte nie mehr Lampenfieber in meinem Leben als vor diesem Konzert in Leipzig. Doch bereits nach 10 Minuten zog ein hysterischer Punk sein Messer, warf es gezielt in meine Richtung und schrie mit rotem Kopf: „Ihr seid nicht die wahren Freygang, ihr habt euch an das System verkauft!“ Aber ich spielte in der wahren Band – und zwar in der einzig wahren – du Arschloch! Keine 3 Wochen später hatte auch er sich an die neuen Gesichter gewöhnt und gab uns bei der nächsten Gelegenheit Bier aus. Logisch spielten wir nur noch neue Songs, wir hatten ja inzwischen auch genug Zeit gehabt, welche zu schreiben…
Wenige Wochen später dann wieder Spielverbot. Aber „Lebenslänglich“ wurde kürzer, die Köder fetter und auch die Fallen waren nicht mehr zu übersehen. Sie rochen schon von weitem dermaßen nach Verrat und Kompromiss, dass einem übel wurde. So musste also Egon, unser zweiter Gitarrist, offiziell unsere Amtsgeschäfte in die Hand nehmen und sich als ehemaliger Lehrer von den Behörden mit „Genosse“ anschreiben lassen. Ein ungeliebter Kompromiss, doch so hatte die Band – wenigstens für ein Jahr – wieder etwas Luft gewonnen.
Wir spielten, als wenn es das letzte Mal wäre, in jedem Nest, dass auf der Karte eingezeichnet war – und manchmal auch nicht mal mehr das. Im September glaubten wir uns schon sicher und rannten während eines Open Airs in einem Nest in der Nähe von Dresden voll ins offene Messer. Frauendorf, welch lieblicher Name für ein Desaster! Eine Hundertschaft Bullen und eine komplette Hundestaffel konnte eigentlich nicht zu übersehen sein, doch wir ignorierten die Vorzeichen, wie wir alle Vorzeichen ignorierten. Das Konzert endete schließlich mit der Verhaftung der ganzen Band direkt auf der Bühne.
Termin: Magistrat von Berlin, Zimmer XY, mitzubringen waren die Spielerlaubnis sowie die Arbeitsnachweise jedes einzelnen Musikers (ja klar, im Osten musste jeder Amateur eigentlich noch täglich 8 Stunden an der Werkbank buckeln und sich anschließend sein kleines „Hobby“ noch offiziell genehmigen lassen). Keine Chance! Wieder einmal lautete das Urteil „Lebenslänglich!“. Den Vorsitz der Verhandlungen führte im Übrigen unser späterer Wendebürgermeister – ja, genau der, welcher sich neben Walter Momper immer so gern ins Bild drängelte
.
Trotzdem gab es dann drei Monate später eine von der FDJ gesponserte vierwöchige Tour an der Erdgastrasse in Russland, natürlich unter falschem Namen. Die Band unseres Freundes Arnfried hatte sich gerade aufgelöst und so flogen wir halt als Metalband in den Ural. Der Name „O.K.-Band“ war uns zwar etwas zu dämlich, doch schon am ersten Auftrittsort wurden wir, sehr zur Freude der dortigen Arbeiter, als Freygang enttarnt. Doch spätestens der ebenfalls dort anwesende Minister für Energiewirtschaft der DDR wusste dem Berliner Magistrat vom Missgriff der Berliner FDJ-Kollegen zu berichten. Zur Strafe tappte seine Tochter beim Silvesterball in die Freygang-Falle und ich ins Buffet. Schluss! Ein weiteres Mal „Lebenslänglich!“

Bis zur Wende blieben nur krasse und weniger krasse Ausrutscher der einzelnen Musiker in anderen Bands, Konzerte unter anderem Namen, Konzerte in Ungarn oder sonst wo – oder eben auch gar keine Konzerte. Es kursierten Hunderte von Bootlegs und vor allem Hunderte von obskuren Geschichten in der Szene. Wir taten alles, um die Band spielfähig zu halten, doch es konnte niemand die Zukunft vorhersagen. Würde die Band jemals wieder spielen? Und wenn, würden sie das Konzert dann auch beenden?
Die Wende ermöglichte im September 1989 unglaubliche Perspektiven, Perspektiven, von denen wir immer geträumt hatten. Aber irgendwie kam uns damit auch der Feind abhanden! Deswegen endet meine Geschichte mit Freygang auch mit der Wende – und auch die Geschichte meiner Jugend. Irgendwie…

4 Kommentare
  1. kay sagte:

    hej kay, hier schreibt kay aus dresden. ne interessante geschichte mit dem auftritt in der nähe von dresden. könnte es sein, daß der ort nich frauendorf, sondern frauenhain heißt? da gab es seinerzeit das inselfest und dazu hab ich auch ne geschichte:
    1985 war ich 16 und fieberte meinem ersten freygang konzert entgegen. als ich hörte, daß ihr beim inselfest spielt, stand für mich fest, daß ich hinfahre. also an besagtem tag den s50 gesattelt und los. von meinem heimatdorf bis frauenhain waren es etwa 35 km. in riesa am busbahnhof traf ich einen guten kumpel, der auch zu live konzerten ging. er erzählte mir, daß ihr wieder verboten wärt und nich in frauenhain spielt. zu der zeit ja nix ungewöhnliches. also nahm ich ihn mit und wir fuhren gemeinsam ins waldschlößchen nach röderau, wo an diesem abend zopf spielte. das war dann mein erstes mal in röderau, wo ich fortan stammgast war. der clou an der ganzen sache ist, daß ich auf dem heimweg nochmal bei uns auf nem dorffest reingeschaut habe und eine bekannte traf, die in frauenhain war und mir erzählte, daß ihr doch gespielt habt. da war ich richtig sauer, daß ich das verpaßt habe. hoite sage ich immer, daß war mein erstes NICHTKONZERT von freygang. wann ich oich dann wirklich das erste mal gesehn habe, daran erinner ich mich nich mehr. wird nich viel später gewesen sein, vielleicht unter anderem namen wie z.b. andré und die raketen in der tonhalle in radeboil. fan war ich ja vorher schon und bin es bis hoite. auch nach andré ’s tod (ich war auch auf der beerdigung) gehe ich weiter zur band. nich mehr so oft wie früher, aber regelmäßig und gerne, weil sie eben nich stehenbleiben, sondern sich immer weiterentwickeln…das imponiert mir. viele sagen, das is jetz nich mehr freygang (heißen ja freygangband) und gehen darum nich mehr hin. für mich is der rock and roll immernoch derselbe, aber andré fehlt und is nich zu ersetzen, aber das wollen sie ja auch nich.
    also, wäre schön, wenn du mal in deinen erinnerungen kramst, ob es doch frauenhain gewesen sein kann, das wäre wohl in dem falle mein erstes nichtfreygangkonzert…
    viele grüße aus dresden
    kay

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    • Kay Lutter sagte:

      Hallo Kay!
      Vielen Dank für deinen Kommentar, das freut mich. Ich habe gerade mal nachgesehen und musste feststellen, dass weder du noch ich richtig liegen. Wir haben zwar regelmäßig in Frauendorf gespielt, manchmal sogar einmal im Monat. Dieses Frauendorf liegt in der Nähe von Ortrand, auf der anderen Seite der Autobahn in Richtung Dresden. Doch ich habe bei meiner Geschichte den Ort Frauendorf (vielleicht klingt der Name ja einfach auch viel interessanter) mit dem Ort Lindenau verwechselt, der sich gleich nebenan befindet. Dort gibt es eben auch diese Freilichtbühne. Sie kommt im Übrigen auch in meinen kleinen Videos vor, da musst du mal unter meinen Videos nach „Bluessommer Teil 2“ Ausschau halten. Wir haben auch tatsächlich ein einziges Mal in einem Ort namens Frauenhain gespielt, das war genau am 27.6.1986 🙂 Da ich es mir aufgeschrieben habe, bin ich mir bei der Jahreszahl ziemlich sicher und muss dich da leider enttäuschen, denn wir waren 1985 mit Sicherheit nicht in Frauenhain.
      Viele Grüße aus Berlin von Kay

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      • kay sagte:

        hallo kay, vielen dank für deine schnelle antwort. dann wird es 1986 gewesen sein, mit meinem ’nichtkonzert‘. is ja schon etwas her, da verschwimmen die jahreszahlen manchmal. und wenn ihr in frauenhain direkt von der bühne runter verhaftet worden wärt, hätte mir die bekannte damals bestimmt davon erzählt.
        die videos werde ich mir anschauen und ich bin schon sehr gespannt drauf, dein buch zu lesen. ein kumpel hat es bereits gelesen und mir wärmstens empfohlen. und da mein geburtstag in kürze ins haus steht, weiß ich auch schon, was ich mir wünsche…viele grüße nach berlin. kay

        Antworten
  2. Thomas S. sagte:

    Hallo Kay, das ist ja interessant. Bei dem Konzert in Lindenau war ich dabei. Das letzte Konzert vor dem endgültigen Verbot. Wobei ich denke, dass Andre es vermasselt hatte und nicht ihr. Nur hatte ich den Namen des Ortes vergessen, war mir aber sicher, dass es nicht Frauendorf war. Jetzt weiß ich zum Glück wieder wo ich das letzte Konzert gesehen habe. Insgesamt waren es wohl um die 70 Konzerte in den 1,5 Jahren. Wie krass… Das waren wohl 2 Bluessommer! 😉 Viele Grüße, Thomas aus Berlin (damals Dresden)

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