Fast ein Naturereignis – von Gunter Haug

4.Kapitel: 1999 – Und alles wird ganz anders!

Wann ich zum ersten Mal von ihnen gehört habe? Ich weiß es nicht mehr ganz genau! Das muss wohl so ungefähr im Jahr 1997 gewesen sein, oder ´98. Ist ja eigentlich auch egal! Aber gut: Was hatte ich als Erstes über sie gehört? Dass es da irgend so eine Ossi-Truppe gäbe! Unglaubliche Chaoten mit unglaublich schrecklicher Musik! Empörend! Einerseits…
Und andererseits hat mir eine andere recht bekannte Gruppe aus dem Berliner Osten berichtet, da gäbe es jetzt noch so eine Gruppe, die dieselbe Musik wie sie machen würde: Nur viel schlechter halt! Ein übler Abklatsch! Empörend…
Wer so viel Neid und Aggression auf sich zieht, muss interessant sein! Das zumindest lautete dann meine eigene Schlussfolgerung. Und ich war neugierig geworden. Neugierig auf diese Gruppe namens In Extremo, die so extremo-mäßig viele Emotionen angeheizt hatte. Denn immerhin: Neid muss man sich erarbeiten, Mitleid dagegen gibt’s umsonst! Mit anderen Worten: Die Jungs konnten so schlecht nicht sein!
Komisch nur, dass sich die selbsternannten Vertreter der „reinen Lehre“, die langweiligen Folklore-Minnesänger und die harten Mittelalterrocker im Falle In Extremo ausnahmsweise mal einig waren. Eine Übereinstimmung, die es früher nie gegeben hatte – und später auch nie wieder…
Also hab ich mir eine CD besorgt, damals noch von der akustischen In Extremo- Variante und festgestellt: Die sind gut! Gut, mehr nicht – aber dazu tauglich, einmal zu einem der „Festivals der Spielleute“ eingeladen zu werden. Einer Open Air- Fernsehsendung des SWR mit mittelalterlicher Musik, die sich wachsender Beliebtheit erfreute, und deren Redaktion in meinen Händen lag.
Nun gut: In Mosbach im Odenwald war’s dann so weit. In Extremo – kein Mensch hatte dort jemals etwas von denen gehört (entsprechend groß war die Skepsis) – und räumte ab… Kein Vergleich mit der CD! Die Bühnenpräsenz, die Show, die Kraft, das hundertprozentige Engagement von allen: Perfekt! Die Zuschauer dementsprechend begeistert, die meisten „Kollegen“ der anderen Gruppen: Sie schwankten zwischen Empörung und dem Schwur, nie wieder gemeinsam mit In Extremo aufzutreten.
Wie gesagt: Neid muss man sich hart erarbeiten…
Ach ja, eine schöne Begebenheit am Rande: Auch meine Schwiegermutter (65 Jahre, gut bürgerliche Verhältnisse) war zum Mosbacher Festival gekommen. Mit bangem Blick habe ich deren Reaktion auf den wilden Auftritt verfolgt. Ihr wisst ja, was ich meine: das Missfallen von Schwiegermüttern grenzt so ziemlich an die familiäre Höchststrafe… Doch siehe da – das Wunder von Mosbach war geschehen: Die Oma völlig begeistert, vor lauter Verzückung ganz aus dem Häuschen! Gerne würde sie wieder einmal ein Konzert der netten Jungs besuchen! Was für mich den endgültigen nunmehr auch empirisch festgestellten Beweis der These darstellt, dass jeder Mensch einen schwarzen Punkt in seiner Seele hat. Der eine weiter vorne, die Oma weiter hinten…Aber dennoch!
Micha hat mir dann verdeutlicht, dass dieser Auftritt nur ein müder Abklatsch ihrer Rockversion gewesen sei. Rockversion? Mittelalter? Wie bitte?! Doch, hat er gegrinst und mich zum nächsten Auftritt der Mittelalter-Rocker eingeladen. Nach Heidelberg, ins Schwimmbad! Nein! Falsch gedacht! Das ist ein fast schon legendärer Musikclub in der Unistadt, der halt „Schwimmbad“ heißt, weil dort mal eins war. Der Raum war nicht groß, es werden wohl 300 Leute darin Platz haben – aber gut und gerne 500 waren drin. Dazu sechs Musiker und ein Höllensound! Am nächsten Morgen noch habe ich ein Hörvermögen von knapp 50 % bei mir geschätzt. Aber es war gut: Höllisch gut! Eins vom Allergrößten, was ich musikmäßig jemals erlebt habe! Mit Worten kaum zu beschreiben: Kann man nur erleben, so was!
Mein Grundsatz: Selber gucken, selber denken und nichts auf das Geschwätz der anderen geben, hatte sich also wieder mal bewahrheitet. Wir haben dann noch einige Festivals mit der Rock-Version veranstaltet. Viele von den anderen Gruppen wollten tatsächlich nicht erscheinen, als sie gehört haben, dass DIE DA auch dabei sind. Gut, dann eben nicht! Schließlich waren sie halt doch dabei und haben mit neidvollen Blicken angewidert den Auftritt der Konkurrenz verfolgt! Und ihre Füße haben im Takt gewippt…
Interessanterweise haben sich auch einige der bisherigen Besucher mit Grausen abgewendet, nämlich diejenigen, die gerne mit Lodenmantel und Gamsbart am Hut die schicke germanische Folklore genossen haben: Hat mir nichts ausgemacht – im Gegenteil! Wer sich Geschichte so hinbiegt, bis sie in den eigenen Schädel passt, auf den/die kann ich sowieso verzichten!
Was ich damit sagen will und was ich seit Jahren wieder und wieder predige: Originale mittelalterliche Musik gibt es nicht!!! Hat es nur im Mittelalter gegeben! Und diese Vertreter der wahren, reinen Lehre! Zum Kotzen! (Entschuldigung, aber es ist so!) Kein Mensch kann für sich in Anspruch nehmen, die Wahrheit gepachtet zu haben! Und kein Mensch weiß wirklich, wie es damals geklungen hat. Das wissen die langweiligen Blockflöten-Folkloristen genauso wenig, wie die Mittelalterrocker! Soll aber andererseits doch bitte keiner so tun, als hätten die Menschen damals nicht auch lieber gelacht, getanzt, mit den Füßen gewippt und in die Hände geklatscht, als mit bedeutenden Mienen den Klängen dieser hochgestochenen Erzlangweiler gelauscht! Im einen oder anderen Schloss sicherlich, aber doch nie und nimmer auf den Marktplätzen!
           Wie gesagt: Wie es dort damals ganz genau geklungen hat, das wissen wir nicht. Wovon ich jedoch überzeugt bin – und zwar felsenfest – das ist die Tatsache, dass sich das Lebensgefühl und die Lebensfreude der Menschen bei einem Auftritt des fahrenden Volkes seinerzeit ganz ähnlich Bahn gebrochen haben, wie heute noch bei einer dieser unglaublichen In Extremo – Shows. Hier schaffen sie es tatsächlich, die Atmosphäre einer längst vergangenen Epoche, für ein oder zwei Stunden blitzlichtartig wieder auferstehen zu lassen: Nicht mit originalen Klängen, aber mit original demselben Feeling, das schon vor 500 und mehr Jahren die Menschen gepackt hat.
Nur dass es dann nach diesen ein, zwei Stunden damals auch schon wieder vorbei war – für ein Jahr oder mehr. Heute haben wir es besser: Heute gibt’s zur Überbrückung ja CDs oder Videos, DVD und so. Obwohl – sorry Jungs, aber ich muss es sagen – ist alles nur halb so schön (und halb so wild) wie ein Livekonzert mit In Extremo!
(Gunter Haug, Autor und Ex-Fernsehredakteur des SWR)
Nach dem „Festival der Spielleute“ in Heilbronn, dem „WGT“ in Leipzig und einigen anderen Konzerten stand schließlich am 23.Mai 1999 unser erstes großes Open Air im Ausland an: Das berühmte „Dynamo Festival“ in Holland!

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