Laterne am Meer

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Ich träume oft davon ein Segelboot zu klauen – Udo Lindenberg (Single/1976)

Da sitze ich nun, 25 Jahre nachdem mir dieser Song, aus heute sicherlich nicht mehr so leicht nachvollziehbaren Gründen, die Tränen in die Augen getrieben hat, unter einer flackernden Laterne auf einer halbfertigen Ferieninsel, von der man schon seit Jahren weiß, dass sie den Charme einer ehemaligen Gefängnisinsel wohl niemals so richtig abschütteln kann. Wie denn auch? Fuerteventura ist nicht das Land der Träume, auch wenn dort im Winter die Sonne scheint und sich ab und zu eine Palme im kargen Wüstenboden festkrallen kann. Das war es dann auch schon, der Rest ist handgemacht. Es bleibt ein Eiland, für dessen Einnahme vor 400 Jahren nicht mehr als eine Handvoll Seefahrer vonnöten war, auf dem der Sklavenhandel blühte, und das jetzt im Viertelstundentakt von Billigfliegern angesteuert wird, dessen proletarischer Inhalt anschließend den wohlgeordneten 14-tägigen Paradiesurlaub in einem all inclusive-Viereck abzubummeln versucht.

Ich träume oft davon
Ein Segelboot zu klauen
Und einfach abzuhauen

Welche Richtung wollte man damals eigentlich ansteuern, wenn man Rügen, Hiddensee oder  Usedom einfach rechts liegen ließ, gesetzt den Fall man kam überhaupt mit einem Boot bis an den ostdeutschen Strand? Mit einem Blick auf die Weltkarte blieb die Ostsee immer nur die Freiheit des kleinen Mannes, das richtige Leben fing woanders an. Wo genau war eigentlich egal, es musste nur weit genug weg sein. Oder sollten etwa Dänemark und Schweden schon das Ziel aller Wünsche sein, die Zentren der Langeweile? Man liest ja hin und wieder in soziologischen Erhebungen, dass die Menschen in Skandinavien am glücklichsten sind. Aber Langeweile ist auch nicht gerade ein erstrebenswertes Ziel, um sein Leben zwischen Grenzbooten aufs Spiel zu setzen. Ich möchte dort jedenfalls nicht tot über dem Zaun hängen!  Und ist der Gartenzwerg nicht eigentlich auch eine skandinavische Erfindung?
Die Laterne flackert unromantisch und macht das Schreiben plötzlich schwer, während der Wind, der vom Meer bläst, die Tinte schneller trocknet als die Gedanken. Vielleicht liegt es aber auch bloß an der halbvollen Flasche Wein, dessen Inhalt die Konturen der Nacht plötzlich schärfer erscheinen lässt.
„What a nice sunset, isn’t it?“, tippt es mich plötzlich mit schwerem Atem auf die Schulter.
„Nice sunset?“ Ich versuche im Mondlicht meine Uhr zu erkennen, die deutlich auf Mitternacht zeigt. „Maybe moonset, or whatever…!“
Liverpool hat wohl in den letzten Minuten doch noch den Ausgleich geschafft…
In weiter Ferne ziehen zwei Polizeiwagen ihre Kreise, auf der Jagd nach illegalen Einwanderern oder volltrunkenen englischen Hafenarbeitern, die ihre knappen freien Tage in englischen Kneipen, bei englischen Fußballspielen, zusammen mit ihren blassen, sonnenverbrannten, rothäutigen englischen Frauen genießen. Und hätte ich sie nicht heute Morgen beim Frühstück getroffen und später an den Strand ziehen sehen, dann würde ich nichts davon ahnen, dass zwischen den Felsklippen der eine oder andere bewaffnete Soldat auf die Ankunft ein paar wagemutiger Afrikaner lauerte, die im Schutz der Dunkelheit in einer Nussschale versuchen würden, das europäische Paradies zu erreichen. In gewisser Weise träumen sie meinen Traum, denke ich ketzerisch, nur dass sie wirklich um ihr Leben kämpfen müssen, während ich, romantisch verklärt und angetrunken, an einen Song aus meiner Jugend denke. Aber das ist eine andere Geschichte.
Und doch ist es mein Song, der mich hier sitzen lässt. Mein Song, das Glück der Geschichte und das Glück derer, die mit einem goldenen Löffel im Mund geboren wurden, allen widrigen Umständen vor der Wende zum Trotz. Diese Seite der Welt ist die Sonnenseite, mal von oben betrachtet!
Das Meer muss stets herhalten für Sentimentalitäten aller Art, warum sollte es bei mir anders sein? Es muss stets herhalten, wenn es um Liebesgeschichten und Unglücke geht, auch wenn Leonardo und Kate es für eine üble Schmonzette missbrauchten: Es bleibt das Symbol jedweder Sehnsucht. Das Meer ist die perfekte Grundlage für eine Geschichte mit offenem Ausgang.

Jetzt wollen wir doch mal sehen
Wie weit die Reise geht
Und wohin der Wind mich weht
Es muss doch irgendwo `ne Gegend geben
Für so’n richtig verschärftes Leben
Und da will ich jetzt hin

Irgendwann sieht man die Sonne langsam im Meer versinken und wünscht sich, dass man in Thailand mit dabei sein könnte, wenn sie wieder aufgeht. Es ist überall schöner als zu Hause. Doch auch in Thailand ist es irgendwann genug, zumindest wenn man nach einem  Jahr feststellt, dass man von dem Job als Tauchguide auch dort nicht wirklich überleben kann. Dann steuert man sein Segelboot nach Tasmanien, hofft auf gutes Wetter und lockere Einreisebestimmungen. Sollte es auch da mit der Aufenthaltserlaubnis nicht funktionieren, bleibt noch der Weg nach Myanmar. Dort locken lange Sandstrände und ein noch unerforschter Urwald, dort tanzen halbnackte Ureinwohner im Kreis und kauen pausenlos auf Betelnüssen herum. Mit etwas Glück würde sich das Militärregime eines Tages auch wirklich zurückziehen, schließlich hatte man die Ketten-Email mit der Petition an den Regierungschef doch höchstselbst verzehnfacht und weitergeleitet. Lange konnte das also nicht mehr dauern. Zur Not könnte man umdisponieren und die etwas weitere Anreise nach Kuba in Kauf nehmen. Jetzt wo Fidel nicht mehr da ist, wäre eigentlich die beste Zeit um ein Schnäppchen zu machen, bevor die Amis die Insel wieder unter sich aufteilen. Wir hatten schließlich die Wende schon einmal verschlafen und man macht keinen Fehler ein zweites Mal.
Das Segelboot steuert derweil unverdrossen von Nord nach Süd, es dreht sich im Kreis, es folgt hin und wieder den Sternen, Einladungen von Freunden, es sucht die wahre Liebe oder es folgt plötzlichen religiösen oder gar esoterischen Eingebungen. Doch es fährt immer nur dorthin wohin du es führst. Doch nach ein paar Jahren stellt man plötzlich fest, dass man nur noch Freunde hat, die sich mit 40 immer noch jeden Tag aufs Neue fragen, was sie denn später einmal werden möchten. Yogalehrerin in Indien? Tauchlehrer auf Gran Canaria? Heilpraktikerin in Wanne-Eickel? Oder doch Autoverleiher in Mexiko?
Das Meer kann grausam sein. Grausam und unerbittlich. Es treibt das Boot wie eine Nussschale vor sich hin, ziellos und mit zerbrochenem Ruder, oder man führt es stolz durch alle Klippen. Es sollte auf jeden Fall eine Geschichte ohne Ende bleiben.

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