Tsunami Tsunami

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Tsunami – Manic Street Preachers (This Is My Truth Tell Me Yours/1998)
Raue See – In Extremo (Mein rasend Herz/2005)

Ich sitze auf dem Sonnendeck der „Flying Carpet“, einem kleinen und bunt bemalten Tauchboot, welches uns die letzten vier Tage und Nächte vor der Küste Südthailands von Tauchplatz zu Tauchplatz bringt. Ich starre auf das offene Meer, lasse meine Gedanken treiben und kann mir in diesem Moment  keinen schöneren Platz auf Erden vorstellen: Wasser soweit das Auge reicht und dazwischen immer wieder ein paar kleine Inseln, von deren Stränden die Palmen zu winken scheinen. Es gibt definitiv schönere Plätze als Berlin im Winter, denke ich mir. Und ich denke auch daran, ob es nicht irgendeine Möglichkeit gäbe, Deutschland für immer den Rücken zu kehren – weit weg von den ständigen Diskussionen um Hartz IV und ob denn die Rente noch reichen würde. Das Leben ist viel zu kurz, als sich die Laune durch lange, dunkle und feuchtkalte Winterwochen vermiesen zu lassen.
Südostasien erscheint mir dagegen wie das Paradies und vielleicht ist es das ja auch. Und dann der Blick auf das Meer! Es zieht mich immer wieder magisch an, vielleicht auch deshalb, weil ich in einer Stadt aufgewachsen bin. Ich liebe Städte, ich liebe Großstädte mit Bars, Kinos, Kultur und viel Trubel und ich liebe besonders das chaotische Gewusel asiatischer Großstädte. Doch hin und wieder reicht es auch und ich muss zum Ausgleich ans Meer flüchten. In einer Stadt ist der Blick gefangen, prallt an Häuserwänden ab und lässt einen nur bis zur nächsten Häuserecke blicken. Das Meer hingegen bedeutet Weite und Gelassenheit, Ruhe und Entspannung, aber auch Wut und Gefahr. Und man muss es erst einmal bezwingen, will man weit weg und andere Kontinente erreichen. Es ist Geburt und Tod zugleich, aber immer wieder auch so etwas wie ein Neuanfang.

Es war der letzte Weihnachtsfeiertag im Jahr 2004, doch daran erinnerte ich mich eigentlich erst Tage später, nachdem alles vorüber war. Weihnachten war von Thailand mindestens so weit entfernt wie es Berlin vom Mond war und für mich konnte die Entfernung zu dieser Zeit nicht groß genug sein, denn ich vermisste dieses Fest nicht im Geringsten.
Wir waren eine Gruppe von vielleicht 15 Tauchwütigen, bunt zusammengewürfelt aus allen möglichen europäischen Nationen. Zur Besatzung gehörten außerdem noch der Kapitän und seine thailändische Crew: seine Frau mit Kind, zwei Helfer und eine Köchin, die in einer winzigen Küche das unglaublichste Thai Food der Welt zauberte. Doch bis auf meine Familie und der Crew schienen alle hier Anwesenden seit Jahren nichts anderes zu machen als zu tauchen, zu tauchen und nochmals zu tauchen. Man erzählte sich vom Cage Diving mit  Weißen Haien in Südafrika und von riesigen Mantas, die vor der Küste von Mozambique im Meer zu sehen waren, von unbekannten Tauchspots in den unbekanntesten Ecken Indonesiens und man belächelte das abgedroschene Touristenangebot in Ägypten. Wir hingegen hatten uns gerade erst dazu entschlossen den Tauchschein zu machen und wollten ansonsten nur die Sonne und das Meer genießen. Und irgendwie wurde ich auch das Gefühl nicht los, dass die Fische immer größer wurden, sobald wir als Anfänger mit den Profis zusammen am Tisch saßen und über unsere Erlebnisse sprachen. Dort saß man dann, trug seinen 472sten Tauchgang ins Tagebuch ein und kontrollierte wie nebenbei den 500 € teuren Tauchcomputer von Suunto. Um etwas den Ernst aus der Sache zu nehmen, fotografierte ich nach unserem dritten Tauchgang einen Hammerhai aus einer der herumliegenden Fachzeitschriften und präsentierte mit einem unterdrückten Lachen unsere „gerade eben“ gemachte Beobachtung der versammelten Mannschaft mit den Worten: „Hey, who can tell me? What’s this for a crazy fish?“

Taucher, Angler und Jäger scheinen im Endeffekt wohl die gleichen Gene zu besitzen. Doch leider zählt das Tauchen, ebenso wie diese beiden anderen Hobbys, zu den Tätigkeiten, bei denen man ziemlich früh aufstehen muss. So begann dann auch unser letzter Tag mit einem morgendlichen Tauchgang, dieses Mal am Richelieu Rock, einem Felsen, der sich circa 4 Meter unter der Wasseroberfläche befindet und der in der Andaman Sea zu den wohl berühmtesten Tauchspots überhaupt zählt. Dementsprechend sah es dann natürlich auch auf der Wasseroberfläche aus, denn die Tauchboote drängelten sich jetzt zur High Saison wie zur Rush Hour in Bangkok – und unser kleiner Hippiekahn mittendrin, denn die „Flying Carpet“ unterschied sich doch schon deutlich von den anderen weitaus moderneren Schiffen.
Nachdem die Profis im Wasser waren durften wir Anfänger hinterher. Wir brauchten halt immer noch eine ganze Weile länger dazu die tonnenschweren Gerätschaften anzulegen und die unzähligen Schläuche in eine sinnvolle Reihenfolge zu bringen. Doch dafür würden wir unter Wasser anschließend fast ganz allein sein, denn dem Tauchpulk würde in spätestens zwanzig Minuten die Luft knapp werden. Wir sprangen also gut gelaunt ins Wasser, doch nach einer knappen halben Stunde unter Wasser spürten wir plötzlich eine starke Strömung, während auch die Sicht wurde zunehmend schlechter wurde. Okay, Abbruch! Unser Tauchguide gab das Zeichen zum Aufstieg. Es hatte einfach keinen Sinn es zu erzwingen, zumal wir als Anfänger auch noch viel zu sehr mit uns selbst beschäftigt waren. Merkwürdig, solch eine Strömung hätte unser Guide an dieser Stelle noch nie bemerkt, meinte er hinterher.
Ich dachte nicht weiter darüber nach, denn die halbe Stunde am Richelieu Rock reichte mir völlig aus, es war ohnehin noch nicht so ganz meine Uhrzeit. Leider würden vom Frühstück an Deck jetzt wohl auch nur noch Rudimente zu erahnen sein, denn wer zu spät kommt den bestraft das Leben. Dass dieser Spruch allerdings schon ein paar Minuten später für viele tausend Menschen an der nahen Küste zur bitteren Realität werden sollte, das ahnte zu diesem Zeitpunkt, 50 Kilometer vor dem Ufer, noch niemand.
Eine halbe Stunde später saß ich mit einem Kaffee auf dem Sonnendeck, dachte über Gott und die Welt nach, als mich plötzlich der Maschinenlärm der anderen Schiffe aus meinen Gedanken riss. Ich schaute verwundert über die Reling und sah wie die verbliebenen Tauchboote hektische Wendemanöver ausführten, um von der imaginären Mitte fortzukommen, aus der plötzlich ein Felsenriff zwei bis drei Meter in die Luft ragte: Es war der Richelieu Rock, an dem wir vor weniger als einer Stunde noch tauchen waren. Ich glaubte meinen Augen nicht zu trauen und auch die anderen Taucher starrten ungläubig auf das Ding in unserer Mitte. Als die Boote in sicherer Entfernung waren, wurden die Anker geworfen. Was war das denn?
Ich ging hinunter, schnappte mir ein Toastbrot und den Rest der noch zu finden war und fragte die anderen, was los sei. Niemand wusste auch nur annähernd etwas Genaues. Frank, Schiffseigner und Dive Master in einer Person, versuchte unterdessen dem thailändischen Steuermann eine Erklärung für dieses Phänomen zu entlocken, doch auch er hatte so etwas noch nicht erlebt. Wir warteten und spekulierten. Ein paar Minuten später stand fest, dass es kurz vor der indonesischen Küste, vielleicht 600 Kilometer von unserem Standpunkt entfernt, wirklich ein Seebeben, einen sogenannten Tsunami, gegeben hatte, der eine gigantische Flutwelle ausgelöst zu haben schien. Und eben kurz vor dieser Flutwelle zöge sich das Wasser zurück und nichts anderes hätten wir gerade zu sehen bekommen. Nun müssten wir auf dem offenen Meer abwarten, ob es noch mehrere Flutwellen infolge von Nachbeben geben würde, denn an einer Insel bzw. einem Tauchplatz in Inselnähe würde eine kleine Nussschale wie unsere mit ziemlicher Sicherheit kentern.
Ich hatte in einem Buch meines Sohnes einmal etwas über Tsunamis gelesen, aber ich konnte mich kaum noch an das Gelesene erinnern. Das Wort war zumindest japanischen Ursprungs und ich siedelte Ereignisse wie diese deshalb eigentlich auch eher in dieser Gegend an. Tsunami bedeutet so viel wie „Hafenwelle“, denn wenn die Fischer auf offener See früher von diesen Flutwellen überrascht wurden dann merkten sie, ähnlich wie wir, fast überhaupt nichts davon. Das Ausmaß solcher  Katastrophe konnte man erst später bei der Rückreise in den Hafenstädten erkennen.
Ich ging also wieder auf das Sonnendeck und versuchte etwas zu schlafen. Was sollte ich sonst tun? Nachrichten gab es keine, der nächste Sendemast für Mobilfunk war kilometerweit entfernt und wir würden hier wohl noch ein paar Stunden abwarten. Zur Not würden wir auf der offenen See übernachten müssen.

Wie ich so in den Himmel blicke und die träge dahintreibenden Wolken beobachte, kommt mir plötzlich der Song „Tsunami“ von den Manic Street Preachers“ wieder in den Sinn. Mein Gott, diesen Song fand ich vor Jahren mal richtig gut, aber nach einem eher langweiligen Konzert in der Berliner Columbiahalle setzte „This Is My Truth Tell Me Yours“ bei mir zu Hause langsam Staub an. „Tsunami Tsunami came washing over me“, sang James Dean Bradfield immer und immer wieder inbrünstig im Refrain und mir fiel auf, dass ich diesen Text bis heute irgendwie nicht verstanden hatte. Und was sollte eigentlich  „Take the GI’s I will have the spies“ ganz am Schluss bedeuten? Gab es da überhaupt etwas zu deuten? Schließlich haben die Manics das Singen in Rätseln ja über die Jahre hinweg kultiviert. Zumindest aber handelt dieser Song von einem wohl nicht: Von einem Tsunami!
Was einem alles so in den Kopf kommt, wenn man in Thailand auf dem Sonnendeck eines Schiffes liegt… Nun hatte ich einen Ohrwurm und wurde den Refrain dieses Songs einfach nicht mehr los. Tsunami Tsunami came washing over me. Also ging ich nach unten in die Kajüte, holte Block und Stift und wollte versuchen einen Text zu schreiben. Irgendetwas zum Thema Meer würde mir heute schon noch einfallen und ich wollte die lange Zeit des Wartens nutzen, während unter Deck die meisten schliefen. Ich starrte also auf das Wasser und versuchte mir etwas einfallen zu lassen, als plötzlich Olaf, ein Freund aus Singapur, mit einer Flasche Whisky auftauchte.
„Heute tauchen wir sowieso nicht mehr!“, verkündete er, „Und wenn alles schief geht, müssen wir uns hier noch die ganze Nacht um die Ohren schlagen.“
Olafs thailändische Freundin Kung wartete in der Hafenstadt Ranong bereits auf uns, denn zusammen mit ihr und drei weiteren Freunden, die auch mit uns hier auf dem Boot waren, wollten wir anschließend in mehreren Etappen nach Bangkok fahren. Olaf war ein paar Jahre zur See gefahren und hatte sich deshalb auch einige Zeit mit zum Kapitän ins Steuerhaus gesetzt, um den Funksprüchen ein paar neue Informationen abgewinnen zu können. Das Seebeben schien seiner Meinung nach ziemlich heftig gewesen zu sein und die Flutwelle hätte wohl auch große Küstenabschnitte Südthailands zerstört, so dass es noch ziemlich unklar wäre, ob wir überhaupt wieder Ranong anlaufen könnten, denn der Hafen liegt in einem spitzen Winkel eingekeilt zwischen den Küsten von Thailand und Myanmar.
„Mehr weiß ich auch nicht!“, sagte er. „Aber die Nachrichten sind ziemlich chaotisch. Lass uns abwarten bis wir Ko Chang erreichen, da gibt es vielleicht wenigstens wieder etwas mehr Empfang!“
Wir mixten uns etwas zurecht, denn Ko Chang lag noch etwas mehr als 50 Kilometer weit entfernt und es würde noch eine Weile dauern. Ich legte also meine ganze Hoffnung auf den Restposten von Guthaben auf meiner malaysischen Pre Paid Karte, der einzigen Telefonkarte, die hier überhaupt halbwegs funktionierte. Das Meer war ruhig und blau wie immer und bis auf diesen kleinen Vorfall am Morgen erinnerte nichts weiter an irgendeinen Zwischenfall. Doch die Nachrichten, die uns von Zeit zu Zeit über das Funkgerät erreichten, wurden immer bedrohlicher und man sprach bereits von vielen Toten und Verletzten insbesondere auf Phuket und in Khao Lak, einem Ort, in dem wir noch vor 5 Tagen in einem Strandhotel abgestiegen waren.
Irgendjemand kam plötzlich mit einem Fernglas an Deck und wir versuchten an den nahen Inseln irgendwelche Zeichen von Zerstörung zu finden. Doch es gab nichts zu entdecken, überhaupt nichts und so hofften wir insgeheim auf ein Missverständnis oder auf die fehlerhafte Übersetzung der blumigen thailändischen Sprache ins Englische.
Das „Tsunami Tsunami came washing over me“ verfolgte mich unterdessen immer noch hartnäckig und ich hielt schon über zwei Stunden sinnlos Block und Stift in der Hand. Vielleicht gab es ja auch mehrere Arten von Tsunamis? Ich suchte mir an Deck einen ruhigeren Platz und versuchte mich wieder auf einen Text zu konzentrieren. Gab es da nicht mal die Geschichte vom „Totenschiff“, diese wahnwitzige Geschichte eines amerikanischen Seemanns der alles verloren hatte?

The death-ship is it I am in,
all have I lost, nothing to win

Diese Geschichte von B.Traven hatte mich vor vielen Jahren schon interessiert, jetzt kam sie mir plötzlich wieder in den Sinn. Das Buch hatte ich in meiner Jugend geradezu verschlungen, nun wurde die Geschichte wieder interessant. Doch es war schon eine reichlich bizarre Situation: Während die anderen das Ufer nach Folgen des Tsunamis absuchten, versuchte ich das Thema für mich zu übersetzen. Doch welcher Ort und welcher Zeitpunkt war dafür besser geeignet gewesen als dieser?

Mittlerweile kam auch meine Familie an Deck.
„Das Kreuzfahrtschiff da hinten liegt auf Grund, hat der Kapitän vorhin erzählt“, verkündete mein Sohn Robert, „die kommen von allein nicht mehr los und evakuieren jetzt die Leute – falls noch eine zweite Welle kommt! Wir fahren jetzt erst einmal in Richtung Ko Chang, die wollen sehen wie es dort aussieht!“
Ko Chang lag in Richtung unseres Hafens, vielleicht 20 Kilometer von Ranong entfernt und war die eigentliche Heimat unseres Tauchguides Frank. Dort war auch seine Tauchbasis stationiert. Wir wollten testen wie es dort aussah und dann entscheiden, ob wir den Hafen mit ruhigem Gewissen ansteuern könnten. Der Anker wurde kurze Zeit später gelichtet und wir fuhren los. Irgendwie war jeder froh, dass die Ungewissheit nun früher oder später vorbei sein würde. Zwei Stunden später ankerten wir vor Ko Chang und ein Teil der Besatzung setzte mit dem Beiboot zur Insel über. Von weitem sah alles normal aus und man konnte sogar ein paar kleine Boote am Steg erkennen. Die würden nach einem Tsunami dort wohl nicht mehr liegen. Frank fiel erst einmal ein Stein vom Herzen, wenn auch die Nachrichten aus dem Funkgerät unterdessen immer schlimmere Ausmaße annahmen.
Eine halbe Stunde später kam Frank allein zurück.
„Auf Ko Chang ist alles okay. Es gab ein paar kleine Überschwemmungen auf der rechten Seite der Insel, aber es ist Gott sei Dank nicht viel passiert. Die Häuser und die Tauchbasis stehen noch! Lasst uns nach Ranong fahren, wir versuchen es einfach mal“
Wenn Ko Chang relativ unversehrt geblieben war, so konnte das dahinter liegende Ranong und der Hafen kaum mehr von der Flutwelle abbekommen haben, als die Inseln davor. Vielleicht wäre ja alles nicht so schlimm, denn auch während meiner 30 Minuten kurzzeitigen Empfangs blieb auf dem Display alles ruhig. Ein paar unserer Bekannten waren ja zur selben Zeit in Thailand unterwegs und wenigstens die hätten sich in der Zwischenzeit nach uns erkundigt.
Wir leerten den Whisky mit etwas mehr Hoffnung, bis Robert plötzlich im Wasser vor uns ein Hausdach entdeckte, was an uns vorbei trieb. Ein komplettes Hausdach – und das ein paar Kilometer vor der Küste! Es war das Dach einer dieser Bambushütten, wie man sie hier zuhauf an den Stränden finden konnte. Das war doch ein sehr untrügliches Zeichen dafür, dass an den Meldungen etwas dran sein musste, denn ein Hausdach schwimmt schließlich nicht so einfach im Meer herum!
Schließlich kam von weitem endlich die Silhouette von Ranong in Sicht und auch mein Handy hatte einen ersten zaghaften Empfang mit den Sendemasten des Festlandes. Plötzlich war das Display voll mit der Anzeige der eingegangenen SMS – und es wollte kein Ende nehmen. Ich wagte sie kaum zu öffnen: „Wo steckt ihr? Geht es euch gut?“, „Seid ihr noch in Khao Lak? Bitte meldet euch dringend!“ Ich schrieb eine Sammelmail und schon war das Guthaben auf meiner malaysischen Karte aufgebraucht. Na toll, auch das noch! Meine D2-Karte würde wahrscheinlich erst wieder im Hafen funktionieren.
Doch merkwürdigerweise gab es an den Stränden immer noch keine Anzeichen von Zerstörungen, weder auf thailändischer Seite noch auf der Seite von Myanmar. Und doch ist vor weniger als einer halben Stunde hier ein Hausdach vorüber getrieben! Und auch der Hafen, der jetzt immer näher kam, sah aus der Entfernung ganz genauso aus wie wir ihn am Tage unserer Abfahrt verlassen hatten.
Es war bereits dunkel als wir einliefen. Die Hafenarbeiter taten so, als sei nichts geschehen und die Taxifahrer standen rauchend an ihren Taxis und warteten darauf, dass wir unsere Sachen endlich aus dem Boot räumen würden. Im Zimmer des Hafenmeisters lief  lautstark der Fernseher mit der englischen Fußballliga. Wir konnten uns das alles nicht zusammen reimen, also versuchte ich meinen Bruder in Deutschland zu erreichen, der mir auch eine SMS geschickt hatte.
„Mensch Kay, wir machen uns Sorgen. In den Mittagsnachrichten lief eine Meldung über ein gewaltiges Seebeben vor Sumatra! Was ist los bei euch? Geht es euch gut?“
Ich konnte ihn noch beruhigen und bitten, alle Bekannten von Deutschland aus anzurufen. Dann brach das Netz zusammen. Mein Bruder konnte sich ziemlich genau vorstellen wo wir uns befanden, denn er war früher oft in Südostasien als Bagpacker unterwegs. Vielleicht machte er sich auch deshalb die größten Sorgen um uns, denn er wusste, dass das Epizentrum des Bebens nicht mehr als 600 Kilometer von uns entfernt lag.
Wir fuhren mit dem Taxi ins Hotel nach Ranong, wo wir Olafs thailändische Freundin trafen. Sie hatte Tränen in den Augen, denn sie hatte die ganze Zeit über gar keinen Kontakt und war heilfroh, uns alle lebend wiederzusehen. Sie erzählte uns was sie wusste, aber auch das war nicht viel mehr. Anscheinend waren die Menschen in Europa wesentlich besser informiert als wir vor Ort. Doch auch im Ort selbst gab es keinerlei Anzeichen von Unruhe, Trauer oder irgendetwas dergleichen. Keine aufgeregten Menschen, keine Sondersendungen im Radio, ganz im Gegenteil: Der Verkehr rollte wie immer, die Pubs, Bars und Restaurants waren geöffnet und im Fernsehen lief die Premier League. Alles wie gehabt.
Nachts im Hotelbett wälzte ich mich hin und her. Ich konnte einfach nicht einschlafen. So viele widersprüchliche Meldungen, dann das Hausdach welches uns entgegen kam und all das wovon Kung uns erzählt hatte: Khao Lak hätte es schwer getroffen, die Brücke nach Phuket wäre eingestürzt, es gäbe viele Tote, Verletzte und Zerstörungen von gewaltigem Ausmaß. Und dann das hier: Ranong, eine Hafenstadt direkt an der Andaman Sea, 100 Kilometer von Phuket und 70 Kilometer von Khao Lak entfernt – und es gab keinerlei Anzeichen von irgendetwas! Es ließ mir einfach keine Ruhe.
Dazu spukte obendrein noch „Tsunami Tsunami“ weiter in meinem Kopf herum und verband sich in meinen Gedanken auf eine merkwürdige Art und Weise mit dem Thema des Totenschiffs. Tsunami Tsunami came washing over me. Ich zog mich leise an, um meine Frau nicht zu wecken, holte mir die einsame Flasche Wein aus der Minibar und verzog mich auf den Hotelflur, auf dem es den einzigen Aschenbecher gab. Den würde ich jetzt wohl für eine längere Zeit in Beschlag nehmen müssen. Ich setzte mich auf den Fußboden, breitete das Schreibzeug vor mir aus, öffnete die Flasche Wein und starrte in die brummenden Neonröhren, bis mir die Augen schmerzten. Die Atmosphäre hier war eine Mischung zwischen Krankenhaus und Kaserne, nur die hin und wieder vorübereilenden Pärchen erinnerten mich daran, dass ich in einem Hotelflur nachts auf dem Fußboden saß und versuchte einen Text zu schreiben. Doch es tat auch gut allein zu sein.
Stellt euch vor die Menschen möchten sich von allem Unglück dieser Erde befreien, von Schuld und Missgunst, von Neid und Krankheiten, von allem erdenklich Schlechten, das diese Welt zu bieten hat. Und man sucht natürlich, wie so oft, nach jemandem, dem man diese ganze Last aufbürden und der anstelle von uns Schuldigen dafür Buße tun soll. Ich möchte ihm mal keinen Namen geben, denn in jeder Religion heißt er natürlich anders. Doch der Auserwählte denkt plötzlich nicht mehr im Geringsten daran diesen Job auszuführen, sondern entdeckt mit der Zeit seinen Spaß daran, all diese Leiden wieder quer über den Erdball zu verstreuen, um sich so für die erlittene Schmach zu rächen.

Den Kahn mit Sünden voll beladen
Mit Unzucht voll bis hin zum Kragen
Von jeder Plage sind gar zwei
In meiner Ladung mit dabei
Mein Leiden drückt den Kiel hinab
Ein Fingerzeig aufs nasse Grab
Doch kann mein Ziel ich nicht verheeren
Dass alte Wunden sich vermehren

Die See ist rau, der Weg noch weit
Kein Fleckchen Erde weit und breit
Die Reise hab ich nie bereut
Ich segle bis zur Ewigkeit

So steure ich das Totenschiff
Mit voller Kraft aufs nächste Riff
Auf dass ihr an der Last erstickt
Mit der ihr mich auf Reisen schickt
Sollte für eure Unschuld sorgen
Von Gott für euch die Freiheit borgen
Auf das die kurze Gnadenfrist
Nun frei von euren Zweifeln ist

Doch habt ihr dabei nicht bedacht
Mit wem ihr diese Gleichung macht
Ich bin der aufgestoßene Sohn
Und euer Spott mein Judaslohn

Am nächsten Morgen fuhren wir in Richtung Norden, immer entlang der Grenze von Myanmar, um zum Kaeng Krachan – Nationalpark zu gelangen, wo wir für zwei Tage im Dschungel bleiben wollten. Doch auch auf dieser Fahrt erinnerte nichts an eine Tragödie, die sich etwas weiter im Süden abgespielt haben sollte, allerdings gab es auch keine Zeitungen und keinen Fernseher
Erst zwei Tage später, auf unserem Weg nach Bangkok, kamen uns die Hilfstransporte auf der Autobahn entgegen, bepackt mit allem, was in dieser kurzen Zeit an Spenden eingesammelt werden konnten. Thailand war wohl inzwischen aus der Schockstarre erwacht und hisste die Flaggen auf Halbmast. Und auch in der einheimischen Presse war der Tsunami plötzlich angekommen. Die Zeitungen übertrafen sich mit einem Mal mit den brutalen Fotos der vielen Opfer, wenn auch die Bilder mit einem für Europäer etwas merkwürdigen Raster überdeckt wurden. Und auch das thailändische Fernsehen, das wir im Hotel empfangen konnten, wollte CNN und BBC World in nichts nachstehen und schickte seine Reporter zu ihren Interviews direkt an die Krankentragen, auf denen sich die Verwundeten vor Schmerzen krümmten. Es gab keinen Respekt vor den Opfern – auch das gehört zu Asien. Uns wurde unterdessen so langsam das ungeheure Glück bewusst, welches wir an diesem zweiten Weihnachtfeiertag am Richelieu Rock hatten. Doch noch wollte und konnte ich keinen klaren Gedanken fassen oder gar über mögliche Folgen nachdenken: Was wäre wenn…?

Tsunami Tsunami came washing over me! Die Scheibe der Manic Street Preachers drehte sich nun schon seit Tagen in Dauerschleife in meinem Kopf und so langsam bildete ich mir ein, die Bedeutung dieses Textes zu verstehen. Nur so, ganz allein für mich: Nein, es würde keinen Tsunami geben, der uns eines Tages von unseren Sünden reinwaschen könnte. Doch vielleicht würde es ja einen geben, der uns irgendwann einmal die Augen öffnet.

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