Soziale Hängematte

Bild Beitrag Soziale Haengematte

On The Road Again – Willie Nelson & Family (Honeysuckle Rose/1980)
Take Me Home, Country Roads – John Denver (Poems, Prayers, Promises/1971)

Kein Job, kein Geld, keine Ahnung wie es weitergehen soll? Irgendwie können die Witze aus „Otto – Der Film“, immerhin auch schon aus dem Jahr 1985, heute kaum noch mehr jemanden hinter dem Ofen hervorlocken, aber dieser eine Satz ist mir doch in Erinnerung geblieben. „…das Kleingedruckte müssen sie nicht lesen, das ist nicht gut für die Augen!“ Was damals auch im Osten für Erheiterung sorgte, war komischerweise 4 Jahre später, kurz nach dem Fall der Mauer, schon wieder in Vergessenheit geraten. Ich wollte es nur noch mal gesagt haben. Doch wie kriege ich jetzt die Kurve?
Wenn man mit dem Motorrad in der skandinavischen Einöde unterwegs ist und sich eine schnurgerade, 150 km lange Straße durch das finnische Lappland vor einem abspult, dann fallen einem die komischsten Songs und Geschichten ein, Geschichten die man längst vergessen geglaubt hat. Irgendwann ertappe ich mich dann dabei, dass ich anfange laut zu singen, so laut, dass der ewig lärmende Fahrtwind für die Dauer meiner Darbietung keine Chance hat. On The Road Again – ich sehe auf den Kilometerstand und richtig: Irgendwo zwischen Kittilä und Inari, im mückenverseuchten Nirvana, zeigt mein Kilometerzähler 2700 km an, was bedeutet, dass ich vor 4 Tagen Berlin verlassen und bisher 2700 km am Stück abgerissen habe. Persönlicher Rekord. Da darf man dann auch singen.
Willie Nelson – schießt es mir plötzlich in den Kopf, während ich bei Tempo 130 den Straßenrand angestrengt nach umherirrenden Rentieren absuche, Willi Nelson – da war doch noch was! Und dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Mein lieber Herr Gesangsverein! Wie konnte ich diese Geschichte so lange so erfolgreich verdrängen? Und ausgerechnet hier, mitten in der finnischen Pampa, fällt mir das alles wieder ein, keine 30 Jahre später. Ich sollte wohl dringend einen Psychologen aufsuchen. Nun gut, es gibt weiß Gott Schlimmeres als Willie Nelson. Ich mag diesen Typen, seinen ellenlangen Zopf, sein zerfurchtes und vom Leben gezeichnetes Gesicht, wie es sonst wohl nur noch Keith Richards hat, und vor allem seine Stimme. Und insgeheim mag ich eigentlich auch seinen allergrößten Hit, der ja nichts weiter aussagt, als das es das coolste Ding der Welt ist, wenn man mit Freunden um die Häuser zieht und dabei Musik machen kann.

On The Road Again
Like A Band Of Gypsies We Go Down The Highway
We’re The Best Of Friends
Insisting That The World Be Turnin’ Our Way

Es hätte alles so schön sein können, doch ich bin weit davon entfernt zu behaupten, dass früher alles besser war. War es nicht – und schon gar nicht im Osten – und besonders dann nicht, wenn man Musik machte und vermeintlich auf der falschen Seite stand. Wie dem auch sei, Willie Nelson hat damit nur indirekt etwas zu tun, doch anscheinend hatte er heute nicht vor klein beizugeben und so verfolgte mich sein Ohrwurm noch Kilometer um Kilometer. Ich versuchte das Lied irgendwie loszuwerden, doch je heftiger ich mich dagegen wehrte, desto schmerzhafter bohrte sich die Melodie in meine Gedankengänge. On The Road Again hat für mich immer noch einen herben Beigeschmack, selbst jetzt, als ich in Richtung Inari unterwegs bin, fern ab von allem und dabei haben wir beide schon vor Jahren miteinander Frieden geschlossen. Sagen wir besser Waffenstillstand. Doch damals, im Herbst 1986 – meine Band Freygang hatte gerade frisch ihr lebenslängliches Berufsverbot erhalten – war dieser Song der allerletzte Scheißsong überhaupt.
Man sollte gar nicht glauben, doch auch im östlichen Teil Deutschlands gab es damals so etwas wie eine Countryszene, die mindestens so konservativ war wie im westlichen Teil des Landes. Hätten sie nur Truck Stop und Gunter Gabriel als ihre Helden auserkoren, es hätte kein Schwein interessiert, aber diese Typen hatten sich ausgerechnet On The Road Again zu ihrer Nationalhymne auserkoren, neben einer ebenso abgedroschenen Nummer namens Country Roads von John Denver. Willie Nelson und John Denver zusammen in einen Topf  zu stecken ging gar nicht – doch Willie Nelson, John Denver zusammen mit Truck Stop und dem unerträglichen Gunter Gabriel, das konnte nur hier passieren. Deutschland einig Vaterland! Wie es ausgerechnet Willie Nelson in dieses Paket geschafft hatte, war mir schier unerklärlich, denn dieser Typ mit seiner wilden Frisur passte so gar nicht ins Schema. Gerade einen Typen wie ihn hätten diese Spießer im Leben nicht in einer ihrer Scheißkarren mitgenommen, hätte er irgendwo am Straßenrand den berühmten Daumen in die Höhe gehalten. Dann schon eher so einen smarten Typen wie John Denver, der niemandem wehtat. Denn während Willie mit seiner Family immer weiter um die Häuser ziehen und es ordentlich krachen lassen wollte, zog es John Denver lieber nach Hause zu Mutti, genauer gesagt nach West Virginia zu den Mountain Mommas.  Von West Virginia träumte folgerichtig irgendwann einmal jeder Country-Ostler und spätestens nach dem Fall der Mauer spendierte er sich dann die Reise ins gelobte Land, bestenfalls von der Auslöse seiner Firma, welche mittlerweile für eine Westmark an irgendeine Westbude verscherbelt wurde, nur um nach der Wiederkehr festzustellen, dass er nun leider arbeitslos war. Ich hasse Schachtelsätze!
Kein Job, kein Geld, keine Ahnung wie es weitergehen soll? Das Szenario ist auch mir nicht gänzlich unbekannt. Meine Band war also verboten und irgendwann wurde auch bei mir das Geld knapp. Okay: Brötchen gab es für 5 Pfennig, Käse für 90 und Bier kostete in der Kneipe auch nur eine Mark. Doch auf Dauer war das nichts und die Ernährung war auf Dauer leider auch sehr einseitig. Bis eines schönen Tages ein kleiner Mann vor meiner Tür stand und Rettung versprach.
„Ich brauche dringend einen Bassisten, der auch singen kann!“
„Okay!“, sagte ich – auch wenn mich meine innere Stimme augenblicklich daran erinnerte, dass ich noch nie auf einer Bühne gesungen hatte – doch sie verstummte bei der plötzlichen Aussicht auf 20 Konzerte im Monat für je 100 Mark Gage, macht 2.000 Ostmark im Monat. Das war 3 Mal so viel wie ein Lehrergehalt. „Ich bin dein Mann!“, hörte ich mich sagen, ohne mich von meiner inneren Stimme weiter belästigen zu lassen.
„Dann sehen wir uns nächste Woche Dienstag zur ersten Probe. Hier ist das komplette Programm auf Kassette und hier sind die ganzen Texte.“
Das war unser Gespräch in Kurzform. Doch scheiß drauf, was hatte ich denn zu verlieren? Meine größte Sorge bestand im Grunde genommen nur darin, dass mich jemand in einem Country-Kostüm erwischen konnte. Aber sonst? Eine Woche später stand ich also im Proberaum und blickte mich fragend um. Die Nummern, die ich üben sollte, waren unter meinem Niveau und es war geradezu lächerlich, denn ich brauchte keinen Vormittag für den ganzen Kram. Und die Refrains der Stücke würde ich einfach vom Zettel mitsingen. Punkt. Interessanterweise war bei der Probe nur der kleine Mann selbst anwesend, der sich kurze Zeit später als Gitarrist entpuppte. Er hatte die Anlage schon aufgebaut und fummelte an einem Rhythmuscomputer umher, den er liebevoll Herbert nannte.
„Trinkt nicht und ist immer zuverlässig!“
Aha! Ich grinste gequält.
„Und wo sind die anderen?“
Sein Gesicht verzog sich augenblicklich zu einem Fragezeichen.
„Welche anderen? Wir sind ein Duo! Hast du die Texte drauf?“
Da hatte ich wohl etwas missverstanden, also versuchte ich mich doof zu stellen.
„Du meinst die Refrains? Die singe ich aus dem Stehgreif, sobald du zu singen angefangen hast!“
Doch ich ahnte es natürlich schon.
„Wie jetzt? DU bist doch der Sänger – und ICH singe die Refrains mit, mein Freund!“
Super Idee, doch nicht für Geld und gute Worte. Ich machte mich schon ungern in einer Countryband zum Klops, wohlmöglich musste ich dabei sogar noch einen albernen Hut aufsetzten, damit mich niemand erkannte. Doch singen? Nur über meine Leiche! Die Musikauswahl allein war schon grauenhaft und zu allem Übel stand dort dieser Rhythmuscomputer, ein billiges Modell, welches so klang, als würde man in der Küche den Besteckkasten aus 3 Metern Höhe auf den Fliesenboden krachen lassen. Auf der anderen Seite waren 2.000 Mark im Monat natürlich auch nicht zu verachten. Dann kam mir schließlich die rettende Idee.
„Ich hab noch einen Kumpel, der gut singen und Gitarre spielen kann. Der macht das mit links. Ist nur ein Anruf. Wir sind ja schließlich zur selben Zeit arbeitslos geworden!“
Mein neuer Chef zögerte kurz, doch dann schlug er zu meiner Überraschung ein.
„Okay, viel Zeit bleibt ja nicht mehr bis zum ersten Auftritt. Immer noch besser als abzusagen!“
Egon hatte natürlich überhaupt kein Telefon, also schnappte ich mir mein Fahrrad und radelte zu ihm nach Hause. Ich musste ihn jetzt nur noch von unserer neuen Mission überzeugen und die Geschichte als freudige Botschaft verpacken, irgendwas in der Art, dass wir jetzt Scheiße in Geld verwandeln würden, genau wie im Märchen vom Rumpelstilzchen, in dem die schöne Müllerstochter selbiges mit Stroh versuchte.
„Country Roads? Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?“, doch ich grinste Egon nur an und die Aussicht auf ein paar Mark und ein wunderbares Tourleben mit seinem alten Freund überzeugte ihn am Ende dann doch.

Country Roads, Take Me Home
To The Place I Belong
West Virginia, Mountain Momma
Take Me Home, Country Roads

Es ging erst einmal nur um eine halbe Stunde “Konzert” in diversen Diskotheken, die wir mit etwas Anstand über die Runde bringen mussten. Schuld daran war irgendeine Verordnung, welche den Veranstaltern von Diskotheken erlaubte, mit einer als „Kulturbeitrag“ getarnten Liveband den Eintrittspreis verdoppeln zu können. Und so kam es schließlich, wie es kommen musste: Das tanz- und vergnügungssüchtige Publikum in solch sagenumwobenen Ortschaften wie Pritzwalk, Gommern, Teupitz und Oranienburg stellte nach der 3.Tanzrunde plötzlich jedwede Aktivitäten ein und ging an die Bar, während wir uns an den Instrumenten zu schaffen machten. Der Rest des Publikums wartete angespannt auf das Ende unseres Auftritts oder sinnierte gar auf Rache. Auf Country stand hier anscheinend niemand und wer konnte es ihnen denn verdenken, wenn selbst zwei Drittel der Musiker auf der Bühne Country hasste?
Man stelle sich das ganze Drama bildlich vor: Ein auf Wochenende geeichtes, völlig aufgetakeltes Dorfpublikum, welches sich ausschließlich besaufen, einen Partner für die kommende Nacht abschleppen und dabei Michael Jackson und Konsorten hören wollte, musste nun – aus völlig unerklärlichen Gründen – ein kurzes Konzert über sich ergehen lassen, dargeboten von 3 verkleideten Gestalten aus der verhassten Hauptstadt, von denen zumindest 2 am liebsten im Erdboden versunken wären. Doch wie sagte schon meine Oma? Auch die schwärzeste halbe Stunde dauert am Ende nur dreißig Minuten!
Ein paar Wochen und Monate ging alles gut. Oder sagen wir mal so: Es wurde niemand durch Flaschen- und Gläserwürfe ernsthaft verletzt, obwohl es manchmal recht eng war. Wir tingelten durch die Gegend, holten das Geld vom Veranstalter und verschwanden so schnell wie möglich durch die Hintertür, bevor sich die Leute es anders überlegten und uns wohlmöglich die Reifen des Autos zerstachen. Doch wozu die Angst? Im Grunde genommen waren sie froh, dass wir endlich wieder verschwanden.
Dann, eines schönen Tages im Herbst 1987, stand der Höhepunkt unserer kurzen Karriere als Countrymusiker auf dem Kalender: Ein Auftritt auf einem Festival, einem richtigen Countryfestival, einem Festival zu dem Leute gingen, die solche Musik über alles liebten. Die Männer trugen teure Stiefel und Stetson-Hüte, die sie sich für unglaublich viel Geld aus dem Westen besorgt hatten, während sich ihre Frauen die Brüste zu wahrhaft unglaublichen Gebilden nach vorn geschnallt und sich dabei in alberne Röcke und Blusen gekleidet hatten. Diese Typen konnte man einfach nicht für voll nehmen und wir begannen uns schon nach wenigen Minuten nach unserer gefährlichen Arbeit in den Dorfdiskotheken zu sehnen.
Doch es half alles nichts und so begannen wir schleunigst damit, uns an der Bar die „Mountain Mommas“ schön zu trinken, denn irgendwie mussten wir die Absurdität unseres Auftretens ja halbwegs anständig überstehen. Doch leider war heute gewissermaßen ein Heimspiel, denn wir gastierten in Berlin, sodass unser Chef, in Anbetracht der Tatsache, dass er heute nicht mehr mit dem Auto fahren musste, auch ordentlich zugeschlagen hatte. Dazu kam, dass er im Anblick der versammelten Country-Prominenz nicht wirklich locker wirkte, während Egon und mich die Musiker aus dieser Szene nicht die Bohne interessierten.
Wie auch immer, ordentlich zugeschlagen trifft es vielleicht nicht ganz, denn unser Chef war voll wie tausend Russen und hatte offensichtlich damit zu tun, überhaupt das Griffbrett seiner Gitarre zu finden und auf der Bühne nicht umzufallen. Erstaunlicherweise ging 15 Minuten alles gut und das Fachpublikum verzieh uns sogar unser nicht ganz standesgemäßes Auftreten, schließlich hatten Egon und ich unsere langen Haare zu Zöpfen gebunden und keine Cowboyhüte auf. Wir hatten heute unseren Indianertag, doch irgendwie flogen keine Gläser, vielleicht auch Dank Willie Nelson, der ja ein ähnliches Outfit wie wir an den Tag legte.
Doch dann begingen wir einen unverzeihlichen Fehler, denn auf unserer Liste folgte die Nationalhymne, die Nummer, die von jeder anwesenden Band hier gespielt werden musste: Country Roads. Nein, wir begingen nicht direkt einen Fehler, wir vergingen uns geradezu an diesem Werk, was alles noch viel schlimmer machte! Ich sehe es noch wie heute: Unser volltrunkener Chef, der sichtlich damit zu tun hatte um auf der Bühne nicht der Länge nach hinzuschlagen, versuchte mehrmals Herbert mit seinem selbstgebastelten Fußschalter zu starten, der sich jedoch vehement dagegen wehrte. Das viel zu leichte Plastikgehäuse floh förmlich vor den Stiefeltritten unseres Chefs, bis dieser ihm einen solch gewaltigen Tritt versetzte, dass Herbert wie ein angeschossenes Huhn über die Bühne hüpfte. Schließlich erledigte unser Gitarrist das Teil mit so einem heftigen Tritt, dass der kleine Rhythmuscomputer plötzlich im doppelten Tempo loslegte. Egon grinste mich an, ich grinste ihn an und dann starteten wir die Death Metal-Version dieses Stücks, welches damit in die Annalen der Musikgeschichte einging – zwar nur unserer persönlichen Musikgeschichte, aber immerhin. In den nächsten 2 Minuten – viel länger war das Stück trotz Doppelrefrain und Gitarrensolo nun auch nicht mehr – mussten wir mehrfach scharf geworfenen Glasgeschossen aus dem Publikum ausweichen, um uns schließlich einmal mehr durch den Hinterausgang des Kulturhauses verdrücken, wo Egon und ich uns zufrieden ansahen und erst einmal eine Zigarette rauchten. Wir hatten es gründlich verkackt, doch wir hatten eine Menge Spaß.
Geld gab es für unseren Auftritt später natürlich nicht und auch unsere Karriere als Countrymusiker näherte sich rasch dem Ende, was uns nicht sonderlich kratzte. Das Geld würde auch so noch eine Weile reichen und es gab immer irgendwo ein Licht am Ende des Tunnels. Die soziale Hängematte sollte erst ein paar Jahre später erfunden werden, doch wir beide – mein Freund Egon und ich – waren schon einmal probeliegen. Und was würde ich darum geben, diesen grandiosen Moment noch einmal erleben zu dürfen?

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