Nackt in Thüringen

1.Kapitel – Die Theorie vom Urknall

Es ging geradezu nahtlos weiter und wir waren euphorisch: Neue Band – neues Glück! Während Rest-Freygang irgendwie für eine kurze Phase in Lethargie verfiel und ihrem verlorengegangenen Kultstatus nachtrauerte, versuchten wir derweil neues Terrain zu erobern. Schließlich hatten wir zur Ostzone ja immerhin auch ein ganzes Land dazu geschenkt bekommen und das wollte erst einmal erforscht und erobert werden. „Wann, wenn nicht jetzt?“, sang ja auch schon Rio Reiser.
Wir hatten ein paar alte Autos, einen Proberaum im Club 29, wo Reiner nebenher als Hausmeister arbeitete, genügend Energie, lange Haare und genügend Konzerte zum Überleben. Was brauchte man also mehr?
Währenddessen schlichen diverse Vertreter der Schallplattenbranche durch die musikalisch interessanten Großstädte des Ostens, Berlin, Leipzig und Dresden und nahmen alles unter Vertrag, was halbwegs nach Underground aussah und einen Kugelschreiber in der Hand halten konnte. Leider merkten die meisten der Bands erst viel zu spät, dass sie sich sogar von Kleinstlabels für mehrere Jahre lang haben über den Tisch ziehen lassen und Verträge unterzeichneten, die oft das Papier nicht wert waren. Die schöne gesetzlose Zeit im Osten Deutschlands, von Ende ´89 bis Anfang ´91, war nun leider endgültig  vorbei – nun wurden hier ganz andere Geschütze aufgefahren!
Wir hatten uns eine gesunde Portion Skepsis gegenüber Männern mit Aktentaschen bewahrt, die plötzlich mit einem Zahnpasta-Grinsen im Club 29 auftauchten und mit uns „mal über Musik“ reden wollten. Außerdem hatten Reiner und ich beim Verkauf der Freygang-Platte schon die Erfahrung gemacht, dass nicht die Bands es waren, die von solchen Verträgen profitierten. Wozu brauchten Bands denn Verträge – entweder es lief oder es lief eben nicht. Aber zugegeben, es war auch eine Portion Glück mit dabei: Gitarrenbands mit langen Haaren, die dazu noch deutsche Texte sangen, waren 1991/92 in den Augen von Plattenfirmen mindestens so hip wie Peter Alexander, Heino oder Roy Black. Diese Typen suchten nach „den anderen Bands“, die damals Ulrike am Nagel, Hans am Felsen oder eben auch Tausend Tonnen Obst hießen.
So waren wir Anfang Oktober ´91 einmal zu Gast beim Berliner Stadtsender FAB, wo wir eines schönen Nachmittags im Vorabendprogramm unsere Single live vorstellen durften. Anschließend fragte die nette Moderatorin den mit anwesenden Studiogast, einen dieser auf Berufsjugendlicher geschminkten Herren und zugleich Mitarbeiter eines großen Plattenlabels, ob es denn für so eine Band wie Noah überhaupt Sinn machen würde, sich um einen Plattenvertrag zu bewerben. Nun ja, bewerben könne sich ja schließlich jeder (und wir hören uns ja auch alles an!!!), aber gerade deutsche Texte seien zurzeit beim Publikum überhaupt nicht gefragt, vom äußeren Erscheinungsbild der Band mal ganz zu schweigen. Darüber müsste man sich dann gegebenenfalls noch einmal austauschen und vielleicht passende Strategien entwerfen – aber wir als internationale Firma haben da ohnehin eher andere Zielgruppen im Auge… Wie oft sollten wir diesen Satz später noch in anderen Zusammenhängen (und von anderen Plattenfirmen) noch zu hören bekommen!
Was sollten wir also mit einer Plattenfirma? So produzierten wir Unmengen von Tapes und verkauften diese anschließend auf unseren Konzerten. Aber nach einem halben Jahr war das Ende der Fahnenstange trotzdem abzusehen: Das Geld reichte zwar immer für den Sprit, den obligatorischen nächtlichen Raststätten-Besuch und die eine oder andere Kleinreparatur an den auch nicht jünger werdenden Schrottkarren, aber das große Rock’n’Roll-Leben war das dann doch irgendwie nicht. Vielleicht sollten wir doch noch etwas an unserem Image feilen, ohne uns gleich verkaufen zu müssen, schließlich hatten Motörhead und Iggy Pop ja vorgemacht, dass es auch ganz anders herum funktionieren könnte.
Unterwegs auf der Autobahn diskutierten wir uns die Köpfe heiß. Okay, so etwas wie ein Organisator oder Manager musste ran, neue Songs müssten geschrieben werden, die textlich deutlich eine Kelle derber ausfallen sollten – so wie es in etwa die Straßenjungs oder die Schroeder Roadshow vor ein paar Jahren schon mal vorgeführt hatten – das Ganze würden wir dann auf der Bühne mit ein paar provokanten Aktionen untermalen.
Thomas zierte sich ein bisschen und auch Hendrik, unserem 2.Gitarristen, gefielen unsere neuen Ideen überhaupt nicht. Er war eher für den gemäßigteren Weg des tonnenweisen Demokassettenversenden, aber darauf hatten wir absolut keine Lust. Ja im Gegenteil: Wir kannten nicht mal eine Band, der es auf diesem Wege gelungen wäre, halbwegs Erfolg zu haben. Unserem Freund und Szeneunikum Arnfried Schobert von der Band Der Gelbe Wahnfried gelang es sogar, mit dem Versand seines neuen Materials aus seinem Vertrag bei der Firma SPV entlassen zu werden. Das solle ihm erst einmal jemand nachmachen, grinste er. Für uns war der kürzeste Weg immer die Gerade und so wurde Hendrik, nach einem kurzen und heftigen Streit, rausgeschmissen – und das 5 Minuten vor der Abfahrt zu einem Konzert. Plötzlich fand sich Thomas völlig unerwartet als  alleiniger Gitarrist in der Band wieder.
Einen Manager fanden wir in Andreas Müller, der gerade eine ABM-Stelle innehatte, um ein großes Umwelt-Festival in Magdeburg mitzuorganisieren. Er kannte zumindest eine Unmenge von Leuten und konnte gut verhandeln. Also sollte er den Job für ein paar Prozente übernehmen. Dann ließen wir Plakate drucken, auf denen wir nackt in grüne Bullenmützen pissten (die hatte unser Fotograf  gerade von einer Produktion des „Tatort“ geklaut), schrieben darunter „Wir machen es im Stehen“, ließen davon eine ganze Autogrammkartenserie drucken, die wir an alle Zeitschriften verschickten, traten auf allen weiteren Konzerten in den Zugaben nur noch nackt auf und benutzten zunehmend Instrumente aus dem sich neben dem Proberaum befindlichen Sexshop zum Musikmachen. So unter anderem einen Vibrator, den wir bei „Wir machen es im Stehen“ zur klanglichen Untermalung einsetzten.
„Ey Alter, geiler Mittelteil bei eurer letzten Nummer! Aber was machst du da dauernd mit dem Fön?“, tönte prompt jemand nach einem Konzert in einem Studentenklub in Freiberg/ Sachsen. Der Osten war wohl doch noch nicht reif genug für unsere Performance und das trotz der wohl weltweit höchsten Dichte an Beate-Uhse-Läden!
Ich kann mich noch gut an unseren ersten Nacktauftritt erinnern. Wir hatten uns geschworen, dieses Ding bei jedem Konzert durchzuziehen, egal ob auf der letzten Bauernklitsche oder beim ZDF. Doch ausgerechnet an diesem ersten Abend gastierten wir in einem Dorf namens Linden, nicht weit von Hildburghausen in Südthüringen. Das war tiefste Provinz, das Dorf selbst gehörte früher einmal zum Sperrgebiet der DDR, die ehemaligen Grenzanlagen verliefen noch immer für jedermann deutlich sichtbar über die benachbarten Hügel. Doch das Schlimmste war: Die Eltern meiner Freundin wohnten keine 3 Kilometer von diesem Ort entfernt. Aber immerhin hingen die Plakate der Band an jedem Baum, das war ja schon mal ein Erfolg.
„Sag mal Kay, bist du das da etwa auf dem Plakat von Noah – der Typ mit dem Stirnband?“ Da konnte ich nur noch grinsen, doch meine Schwiegereltern in spe waren sehr tolerant und weltoffen. Außerdem konnte man nicht gerade behaupten, dass jede kleine Gemeinde ein Plakat mit vier nackten Musikern auch nur länger als 5 Sekunden hängen ließ.
Die Zugabe fing Gott sei Dank immer mit einem langen Gitarrenvorspiel an, also musste Thomas allein auf die Bühne. Nackt! In Thüringen! Wir froren derweil hinter dem Vorhang. Thomas begann mit seinem Solo und wir konnten hören, wie das Volksgemurmel mit einem Mal verstummte. Nein, besser: Es erstarb! Wir lugten heimlich durch den Vorhang und es war unglaublich: Thomas hatte sich die Gitarre noch etwas tiefergelegt, weil er nicht mit so gänzlich freigelegtem Gemächt spielen wollte. Der Feigling! Und dann kamen wir auf die Bühne und das Auditorium reagierte fassungslos. Es war kein Ton zu hören. Kein einziger! Direkt vor mir stand ein dicker Biker, dem gaaaaaanz langsam das Bierglas aus der Hand rutschte, so dass es auf dem Boden zerschellte. Ein unvergesslicher Anblick! Doch der Erfolg machte uns Mut und von diesem Tag an zogen wir das Ding bis zum bitteren Ende durch.
Schon damals begann auch unsere Liebe zu den Berliner Stadtmagazinen, insbesondere zur „zitty“, die irgendwie bis heute anhält. Der König gilt halt nix im eigenen Land, diese Erfahrung machten ja auch schon andere Berliner Bands vor uns. Die „zitty“ druckte unsere Nacktfotos in einem Aprilheft von 1992 dann auch mit der folgenden Bemerkung ab:

„Wer keine Karten für die Chippendales abbekommen hat, der kann sich nun bei Noah eine kleine Portion ungebändigter Männlichkeit abholen, oder? Früher zumindest durften die Herren Nackten im Osten nirgends spielen, nicht einmal angezogen.“

Doch Noah als Band allein reichte uns nicht mehr, zumindest Reiner und mir nicht. Wir fühlten uns irgendwie nicht richtig ausgelastet. Und wohin auch mit den ganzen anderen Ideen, die uns im Kopf rumschwirrten? Thomas hatte ja noch einen Job als Lehrer, in dem er ganz gut eingespannt war, Micha jobbte auch hier und da und zog mittlerweile, zusammen mit Teufel, als Duo Pullarius Furcillo („Die Hüter der Heiligen Hühner, der mit der Heugabel angreift“) über die Mittelaltermärkte, da wollten wir zusammen auch noch etwas anderes machen. Da kam die Anfrage von Tausend Tonnen Obst zu einer Reunion gerade zur rechten Zeit. Reiner hatte die Band vor ein paar Jahren einmal mitgegründet, bevor er dann zu Freygang stieß. Die „Öbstlichen“ galten damals als so etwas wie die verkannten Genies der Szene, eine Mischung aus Punk, Metal, Krach und Captain Beefheart – und nicht umsonst nannte sich der Sänger Ulli „Schandmaul“, ein Name, den zumindest in Berlin niemand ernsthaft bezweifelte.
Die neuen TTO gingen dann auch gleich mit einem Auftritt bei einem großen Berliner Festival an den Start und es wurde für Reiner und mich zunehmend schwerer, die Balance zwischen Noah und TTO zu halten. TTO hatten trotz der schwerverdaulichen Musik und der absurden Texte Erfolg, bei Noah hingegen lief alles wie in Zeitlupe ab. Niemand glaubte mehr so richtig an den Erfolg der Band und wir vermissten irgendwie das Alles oder Nichts-Gefühl – die Musik war bei Noah irgendwie zu einer schönen Nebensache geworden. Es war immer wie auf einer Party mit alten Freunden. „Weißt du noch – damals?“ Am ersten Weihnachtsfeiertag 1992 spielten Reiner und ich dann auch unser vorerst letztes Konzert mit Michas Band, bevor wir uns endgültig zu Obst verabschiedeten.
1993 und 1994 standen dann ganz im Zeichen der Mülltonne, dem Logo von TTO. Doch auch bei Obst war natürlich nicht alles Gold, was glänzte. Mit „Schandmaul“ war es ob seiner egozentrischen Art nicht immer einfach, wir hatten zwar die unserer Meinung nach geilsten Songs der Welt im Studio aufgenommen, hatten inzwischen ein Video gedreht und viele Konzerte gespielt, aber der Erfolg hielt sich trotzdem hartnäckig versteckt. Waren unsere Ansprüche etwa doch zu hoch? Nach 2 Jahren standen wir schließlich wieder genauso da wie am Anfang –  2 Jahre und ein paar Erfahrungen reicher – und so langsam löste sich auch Tausend Tonnen Obst wieder in Wohlgefallen auf.
Auch Micha war in der Zwischenzeit mit seiner neuen Noah-Besetzung nicht glücklich geworden und betrieb die Band eher so nebenbei. Er spielte inzwischen mit Pullarius Furcillo ohnehin mehr Mittelalter- als Rockmusik. Thomas hielt zwar noch durch, aber es passierte eben auch nicht viel. Ende 1994, die Mittelaltersaison war gerade beendet, spielten wir wieder einmal eine kleine Tournee in der alten Besetzung zusammen, trotzdem hatten alle Musiker das Gefühl, dass hier kein Blumentopf mehr zu gewinnen war. Wir würden uns ab und an zu ein paar kleinen Konzerten in unseren alten Stammläden treffen, dann wäre es fast so, als wenn ein paar alte Kumpels zusammen ein Wochenende im Urlaub wären. Die Idee war gut, zumal jeder Einzelne inzwischen mit völlig anderen Projekten beschäftigt war: Micha trommelte auf Mittelaltermärkten, Reiner trommelte bei einem noch namenlosen Projekt und ich landete bei einer Band namens Church Of Confidence. Jeder ging plötzlich seiner Wege, nur ab und an würden wir uns zu einem Klassentreffen wiedersehen. Wir hatten ja mittlerweile im Osten auch alle Telefon.

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