Judaslohn

Breaking the Law – Judas Priest (British Steel/1980)

Die Sonne brannte erbarmungslos durch die Fenster unseres Russischraumes, der sich im obersten Stockwerk des Schulhauses, leider direkt unter dem Dach, befand. Wir schwitzen wie verrückt, doch draußen regte sich kein Lüftchen, so dass selbst die offenen Fenster nicht den erwünschten Effekt brachten. Eigentlich wäre es Zeit gewesen, sich das Fahrrad zu schnappen, um an die Seddiner Kiesgruben zu fahren, unserer bevorzugten Badestelle. In letzter Zeit blieben am Strand zwar die Mädchen aus, weil ein paar Idioten aus unserer Parallelklassedort dort gern Frösche mit Strohhalmen aufbliesen und anschließend zum Zerplatzen brachten, aber das war allemal besser, als hier in der sechsten Stunde bei meiner Klassenlehrerin im Russischunterricht zu sitzen.
Ich hasste Russisch und dieses Fach ausgerechnet in der letzten Stunde zu haben, machte die Sache nicht interessanter. Ich hasste Russisch nicht wegen der Russen, zumal ich ja kaum welche kannte, sondern vor allem wegen unserer Russischlehrerin Frau Dörrbrandt. Sie war eine aufgebrezelte, hässliche alte Zimtzicke, die uns an den Folgen ihrer Schilddrüsenüberproduktion fast täglich teilhaben ließ. Wie ein Oberstleutnant, der gerade die Generalmobilmachung dem gemeinen Volk verkünden will, schritt sie mit bösem Blick, der kein Mitleid und keinen Widerspruch duldete, durch unsere Bankreihen, immer auf der Suche nach Opfern für ihren gefürchteten Vokabeltest an der Tafel. Ich war schlecht in Russisch und meine Drei in diesem Fach hatte ich ausnahmslos meiner Banknachbarin Andrea Lorenz zu verdanken. Das ahnte auch Frau Dörrbrandt, doch überraschenderweise blieb meine öffentliche Hinrichtung heute aus, denn ihr Blick senkte sich plötzlich und unerwartet in Richtung von Sven Kahlbau, der ebenso bleich zurück starrte.
Mir fiel ein riesiger Stein vom Herzen, denn nun konnte ich mich für den Rest der Stunde schon mal gedanklich auf die Suche nach meinem Fahrradflickzeug machen, denn mir war gerade eingefallen, dass mein Rad im Keller einen Platten hatte. Plötzlich rammte mir meine Nachbarin ihren Ellenbogen in die Seite, was mich jäh aus meinem Tagtraum aufschrecken ließ. Vor mir stand Frau Dörrbrandt mit einem Gesichtsausdruck, als hätte sie ein Todesurteil zu verkünden.
„Judas Price! Ich glaube es ja nicht! Stehen sie doch bitte mal auf, Herr Lutter!“
So völlig unverhofft aus meinem Traum gerissen war ich wohl noch nicht ganz bei der Sache und musste unwillkürlich grinsen.
„Was glauben sie nicht, Frau Dörrbrandt?“
„Judas Price! Das was dort auf ihrem Brustbeutel steht! Was hat das zu bedeuten, Herr Lutter? Seit wann gehören sie denn der Kirche an?“
Es fiel mir schwer zu kombinieren, doch dann folgte ich ihrem entgeisterten Blick, der immer noch an meiner Brust heftete, genaugenommen an meinem ledernen Brustbeutel, den ich gestern Abend in mühsamer Kleinarbeit noch kunstvoll bemalt hatte. Den Beutel zierte ein großes, weißes Kreuz, in dessen Inneren sich die beiden Wörter „Judas“ und „Price“ kreuzten. Ich muss zugeben, ich war sogar etwas stolz auf meine Idee.
„Das ist eine Band!“, gab ich kurzatmig zur Antwort.
Was sollte ich in größeren Erklärungen abschweifen? Die hatte ja doch keine Ahnung von Musik. Und von Heavy Metal schon gar nicht.
„Das ist erst einmal eine Figur aus der Bibel. Und ich dulde hier in der Schule keine öffentliche Zurschaustellung von christlichen Symbolen. Zu Hause können sie tun und lassen was sie wollen! Hier nicht! Sie gehen jetzt runter zur Direktorin und melden sich da. Ich will sie in meinem Unterricht heute nicht mehr sehen!“
Frau Hübner, unsere gestrenge Direktorin, war nicht mehr in ihrem Büro. Kein Wunder bei dem Wetter. Ich wollte ja selbst nicht hier sein. Doch wenn ich jetzt das Flickzeug noch schnell finden würde, dann hätte ich sogar einen Vorsprung vor den anderen. Der Tag war sowieso gelaufen, also ging ich nach Hause.

So much for the golden future, I can’t even start
I’ve had every promise broken, there is anger in my heart
You don’t know what it’s like, you don’t have a clue
If you did you’d find yourselves doing the same thing too

Christliche Symbole! Die Alte hatte doch einen an der Waffel! Ich war Heavy Metal-Fan der ersten Stunde, ich war schon Heavy Metal als das Wort noch gar nicht erfunden war und es war verdammt noch mal schwer genug, ein paar Songs aus dem Radio mitzuschneiden, da es in diesem kleinen Land, welches sich selbst für den Mittelpunkt der Welt hielt, nichts gab was auch nur entfernt interessant für einen Heavy Metal-Fan war. Irgendwie musste man sich ja von dem Rest der Bagage absetzen. Ich würde mir jedenfalls nicht KISS auf das T-Shirt pinseln und konnte mir auch Emotional Rescue, das letzte schlimme Album der Rolling Stones, nicht schön reden. Ich stand für etwas anders! Ich würde zur Not auch mit dem Kopf durch die Wand gehen!

Breaking the Law! Breaking the Law!

Mein Kumpel Floyd aus der Parallelklasse wartete an den Kiesgruben schon auf mich. Wir hatten uns vor 14 Tagen alle coole Namen gegeben, denn als Thomas, Martin oder Sven konnte man als Metaller einfach nicht mehr durch die Gegend laufen.
„Hey, Dizzy! Haste schon Schluss?“, begrüßte er mich standesgemäß schon von Weitem. „Jab’s Hitzefrei?“
„Nö!“, antwortete ich und versuchte dabei Charles Bronson so ähnlich wie möglich zu sein. „Die Alte hat mich wegen Judas Price und dem blöden Kreuz nach Hause jeschickt. Christliche Symbole inna Schule und so. Ick hab ihr jesagt, dass ick Metaller bin und das man ditt jetze so trägt! Punkt und fertich!“
„Watt für’n Judas Price?“ Floyd blickte mich mit großen Augen fragend an. „Neue Band, oda watt?“
Ich hielt ihm meinen neuen Brustbeutel vors Gesicht und präsentierte ihm stolz meine selbstentwickelte Grafik mit den sich kreuzenden Wörtern.
„Hier! Breaking The Law, Alta! Du kennst ja ooch janüscht!“
Floyd versteinerte plötzlich und schaute mich mitleidig an. Mein bester Freund Floyd! Hatte ich etwas verbrochen?
„Mensch, Dizzy, sieh zu daste Land jewinnst! Und zeig ditt bloß keenem! Judas Priest! Meinste die? Ick denke du machst Englisch?“
Ich wollte vor Scham auf der Stelle im Erdboden versinken. Wie kam ich aus dieser peinlichen Sache bloß wieder heraus? Über diese Story würde sich die Clique noch in 20 Jahren auf die Schenkel klopfen. Ich konnte nur hoffen, dass Floyd dicht hielt. Zur Not müsste ich ihm eben damit drohen, ihn aus unserer Schülerband zu werfen. Warum musste dieser dusslige Ansager vom RIAS auch so dermaßen nuscheln, dass man kein Wort verstand?
„Echt? Aber Price klingt irgendwie bessa! Und logischa! Ditt is ja quasi ditt Jeld watt Judas für sein‘ Verrat bekommen hat! Oda nich?“
„Ditt is mir völlich Woost, Alta! Und die wer‘n sich wegen dir bestümmt nich umbenennen! Da kannste een druff lassen!“
Ich spürte wie mein ganzes Gesicht brannte. Ich musste aussehen wie eine Tomate kurz vor der Ernte. Dann ließ ich Floyd einfach stehen, ging wortlos zu meinem Fahrrad und fuhr so schnell wie möglich nach Hause zurück. Dort löschte ich Breaking The Law von meiner Kassette. Mit Judas Priest wollte ich nichts mehr am Hut haben. Was für eine Scheißband!

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