Der Herr Doktor repariert sich selbst

5.Kapitel: 2000 – Über den Wolken

Eine Woche später fuhren waren wir zum „Rock For People“-Festival, das im tschechischen Český Brod, in der Nähe von Prag, stattfinden sollte: In Extremo als Headliner vor 18 tschechischen Bands! Doch 20 km hinter dem Grenzübergang erfuhren wir, dass wir eigentlich einen Tag zu früh am Start waren – Dank der gut funktionierenden Kommunikation zwischen unserer Managerin und unserer ausländischen Booking-Agentur. Na, macht ja nix! Wir parkten den Nightliner eben großzügig in den Gassen der Innenstadt, holten uns Strom aus einer Fleischerei und gingen noch zum allerletzten Konzert des Abends: Die Bloodhound Gang! Keine zwei Tage später ging es dann auf das belgische „Dour Festival“ und nach London, wo wir im Underworld spielen sollten. Es war unglaublich: 5 Londoner Supportbands im kleinen Underworld und dazwischen der eine oder andere Zuschauer im selbstgemachten In Extremo-Shirt.
Vom Dour-Festival in Belgien gibt es allerdings noch eine Kleinigkeit zu berichten: Im hinteren Teil der Bühne gab es, direkt zwischen 2 Bühnensegmenten, ein etwa 50 x 50 cm großes und noch abgedecktes Loch im Bühnenboden. Es war unübersehbar und alle Musiker machten im Laufe des Abends einen großen Bogen darum. So auch Dr. Pymonte. Doch die Show des völlig langweiligen Synthie-Duos vor uns zog sich eeeeewig in die Länge und wir prosteten uns derweil backstage mit ein paar Spaßmachern zu. Endlich waren dann auch In Extremo an der Reihe. Und, was soll ich sagen? Zwischen Konzert und Zugabe musste es ja passieren und der Herr Doktor steckte bis zum Oberschenkel in eben jenem Loch fest und zog sich dabei eine fast 15 cm lange und ziemlich tiefe Schnittwunde zu. Doch damit nicht genug – der Zugabenblock wurde natürlich noch gespielt und auch danach hatte Pymonte noch nicht das Bedürfnis, sich von einem Arzt behandeln zu lassen. Man hieß ja nicht umsonst Doktor! Nach einem Blick in die Flasche ging Pymonte schließlich zu unserem Busfahrer Carsten, um sich dessen NÄHZEUG auszuborgen! Er hatte allen Ernstes vor, seine Schnittwunde selbst zu behandeln. Das war schließlich eine Kleinigkeit für einen echten Mecklenburger! Erst das vehemente Einschreiten von Michas Frau Caren, die einen Krankenwagen besorgte, ließ ihn von seinem Vorhaben abhalten.
Nach unseren nun fast schon traditionellen Mittelaltermärkten in Wäschenbeuren und auf der Runneburg ging es schließlich zum „Taubertal Festival“ in Rothenburg, welches vom „Bayrischen Rundfunk“ mitgeschnitten wurde. Das erste In Extremo-Konzert im Fernsehen! Live und in Farbe!
Auf die Aussagen des Bayrischen Rundfunks, nur die qualitativ besten Stücke des Konzertes zu veröffentlichen, hatten wir uns in unserem Glauben an das Gute und an den Lieben Gott überhaupt (und natürlich wie immer auch aus der puren Zeitnot heraus) verlassen, letztendlich liefen (natürlich!!!) die größtmöglichen Pannen über die Mattscheibe: Boris glänzte bei seinem Schalmeien-Solo zu Beginn von „Herr Mannelig“ mit einer minutenlangen Suche nach dem richtigen Ton und meiner Wenigkeit fiel natürlich pünktlich zu Beginn von Bastis Gitarrensolo im „Roten Haar“ die Batterie des Senders aus. Kann ja mal vorkommen, doch meine Batterie musste sich ja unbedingt auch an einer der wenigen Stellen verabschieden, an denen die Rockfraktion allein zu hören war. Na ja, den Kameraleuten entgingen diese Pannen (natürlich!!!) nicht und so hielten sie die ganze Zeit drauf…
Tags darauf ging es weiter zu unserem ersten Konzert auf das Kyffhäuserdenkmal bei Kelbra in Thüringen (wo zwei Jahre später dann das Hauptmaterial für unsere DVD mitgeschnitten werden sollte), eine Woche später traten wir beim „Doomsday“ in Dresden (u.a. mit Phillip Boa & The Voodoo Club und den Sisters Of Mercy) und beim „Bizarre Festival“ auf dem Flughafen Weeze auf. Es wurde also wieder einmal nichts mit dem Sommerurlaub, doch auch daran hatten wir uns mittlerweile (na ja, jedenfalls fast) gewöhnt.
Warum wir beim „Bizarre“ spielen sollten, weiß ich bis heute nicht so recht. Irgendwie ging das Ganze auf die Kappe eines Motorradclubs, deren Mitglieder auf einigen unserer Konzerte in der Vergangenheit als Security gearbeitet und uns in ihr Herz geschlossen hatten. Am Veranstalter konnte es jedenfalls nicht gelegen haben und auch die das Festival präsentierende Musikzeitschrift „Visions“ bedenkt uns bis heute mit hartnäckiger Ignoranz. Mittelaltermusik ist Scheiße und erst recht Musiker, die in Röcken und mit Dudelsäcken bewaffnet über die Bühne toben! So bekamen wir, mittags um halb 1, gnädiger Weise 35 Minuten Spielzeit zugeteilt, um das verwöhnte Independent-Publikum nicht über Gebühr mit unseren Ergüssen zu beleidigen. Das „verwöhnte Independent-Publikum“ war da aber ganz anderer Meinung und feierte uns selbst um diese Uhrzeit dermaßen ab, dass dieser Level erst ein paar Bands später, bei den Absoluten Beginners, wieder erreicht wurde. Geändert hat das an der Einstellung des Veranstalter (und der „Visions“) allerdings gar nichts. Na ja, da kann man wohl nix machen!
Pünktlich zur neuen Saison der Fußball-Bundesliga hatten wir die Idee, ein paar Etagen tiefer auch mal einen Klub zu sponsern, genaugenommen eine ganze Latte von Etagen tiefer, denn die SG Rotation Prenzlauer Berg Berlin, ein ehemaliger Kult-Klub unseres Stadtbezirkes, trieb sich mittlerweile in der 2.Kreisklasse in der Staffel B herum – ohne Chance auf Aufstieg in den nächsten 10 Jahren. Doch damit das nicht so bleibt, steckten wir unsere ganze Energie in die Jugend und sponserten die 2.D-Jugend des Vereins, in dem auch mein Sohn seit Jahren kickte. Fortan liefen die Kids mit stolzgeschwellter Brust und dem In Extremo-Horge auf den Platz!
Nach vielen Querelen und einem ewigen Hin und Her stand im Sommer dann auch endgültig fest, dass zur Single „Vollmond“ ein Video her musste. Nach mehreren Anrufen und Zusammentreffen mit den Verantwortlichen von VIVA 2 gab es die Zusage, dass der Sender das Video, wenn auch nur unter bestimmten Voraussetzungen, senden würde. Plattenfirmen sichern sich im Vorfeld natürlich gern ab, damit das Geld nicht umsonst zum Fenster rausgeschmissen wird. Und da wir zu 50% natürlich an den Herstellungskosten eines jeden Videos beteiligt wurden, waren uns diese Gespräche eben auch nicht ganz unwichtig. Die Erfahrung mit dem „This Corrosion“-Video sollte uns eine Lehre sein, denn trotz großartigen Bildern fiel dieses bei VIVA 2 komplett unter den Tisch. Der Haken an der ganzen Sache war, dass VIVA 2  keine mittelalterlichen Instrumente, keine Gewandungen und auch kein mittelalterliches Flair im Video haben wollte – das würde der angeblichen Zielgruppe des Senders nicht gefallen. Aha, Zielgruppe! Was sollte das denn für ein Blödsinn? VIVA 2 setzte eher auf die Kollegen mit den zu großen Turnschuhen und zu weiten Hosen – oder eben auf den ewiggleichen Hip-Hop-Krempel.
Was also tun? Wir trafen uns mit Sina Farschid von der „Mercury“ und dem Regisseur Heiner Thimm (Tim Luna), der eine Story zu „Vollmond“ entwerfen sollte. Heraus kam eine mehr als merkwürdige Vampirgeschichte, deren Handlung uns bis heute mehr oder weniger unklar geblieben ist. Dann musste alles – wie immer  – am besten schon gestern passiert sein! Der erste Drehtag war natürlich der Einschulungstag meiner Tochter, den ich seit Jahresanfang als Sperrtermin mit „Extratours“ abgesprochen hatte. Jeder von uns gab zum Anfang der Konzertplanung eines jeden Jahres seine Sperrtermine bei der Agentur ab, die dann auch (na ja, fast jedenfalls) heilig waren.
Doros stundenlangen Überredungsversuchen ob der Wichtigkeit dieses Videos zum Trotz blieb ich standhaft – auf gar keinen Fall würde ich zum ersten Drehtag erscheinen – und wenn der Papst persönlich zum Dreh erscheinen würde! So kam es, dass ich das Opfer darstellen sollte, an dessen Hauptschlagader ein Bierhahn eingeschlagen werden sollte, aus dem dann mein Blut abgezapft werden sollte. Mir war es egal, denn ich konnte der Story sowieso nichts abgewinnen. Sogar Emil, der kleine Hund von Doro, bekam schließlich eine Rolle zugeteilt. Ich hoffe ja nicht, als Ersatz… Aber immerhin wurde ich ja, nach der ewigen Herumhockerei in einer ungemütlichen Holztruhe und nachdem ich anschließend geschlagene 3 Stunden gefesselt und mit zugeklebten Mund auf einem Holzhocker sitzen musste, von meinen restlichen Bandkollegen befreit…
Mit den Konzerten auf dem Schlosshof von Osnabrück (mit Mila Mar und Subway To Sally), dem „Rock im Hinterland“ in Obrigheim, einem Auftritt direkt im Stadtzentrum von Essen, dem „Feuertanz Festival“ auf der Burg Kufstein in Österreich (zusammen mit Haggard, der Letzten Instanz und Schandmaul), sowie den beiden Mittelaltermärkten in Hamburg-Bergedorf und Stadthagen, ließen wir den Sommer schließlich ausklingen. Nun wollten wir uns ganze 3 Monate Zeit dafür Zeit nehmen, die Songs für eine neue CD zu schreiben, die dann im Spätsommer 2001 erscheinen sollte. Wir wollten uns, einmal mehr, seeeeehr viel Zeit lassen, um dann Anfang Januar besser vorbereitet als im vergangenen Jahr im „Vielklang“-Studio aufzuschlagen. Ich muss ja nicht weiter erklären, dass auch dieses Mal die Zeit wieder äußerst knapp wurde, oder?
Kurze Zeit später wurden wir für den neu ins Leben gerufenen „German Alternative Music Award“ (GAMA) als beste Liveband nominiert – in einer Kategorie mit den Smashing Pumpkins, den Queens Of  The Stone Age und Apoptygma Berzerk. So fuhren wir also, zusammen mit unseren Freundinnen, am 18.11. nach Hamburg, wo am Abend in der Markthalle die Preise verliehen werden sollten.

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