Das Rock Hard-Tourtagebuch 1999 (Teil 3)

4.Kapitel: 1999 – Und alles wird ganz anders!

26.9., Konstanz/ Kulturladen
Der Konstanzer Kulturladen ist vermutlich der kleinste Laden auf unserer Tour, vermutlich auch der mit der kleinsten Bühne. Aber Konstanz ist auch die Heimatstadt unseres Bookers Peter Vuk von „Extratours“, deruns natürlich gleich vorwarnte: Am Bodensee ist alles gaaaaaaaaaaaaaanz andersch, hier wird’s sowieso nicht voll. Wurde es aber mit vielleicht 400 Zuschauern dann doch noch.
Peter Vuk, selbst berühmt durch Funk und Fernsehen, spielte einst Bass bei den legendären Bellybuttons & The Knockwells. Er lief zu Hause natürlich zu Höchstform auf und gab hervorragende Geschichten zum Besten.
Apropos Bassisten: Heute fiel mir, nach längerem Hin- und Herblättern im „Rock Hard“ Andreas Herz´ Artikel über Bassisten ins Auge: „Einen guten Bassisten erkennt man daran, dass man merkt, wenn er nicht spielt.“ (Hey, hey, in Neuer Rechtschreibung, Kollegen, es geht also doch!) Gut erkannt, das würde ich als Basser auch unterschreiben. Übrigens: Im Osten gab es für Bassisten eine Zeitlang die Bezeichnung „TTT“, was so viel bedeutet wie „Tieftontölpel!“ Darüber sieht der wahre Bassist natürlich mitleidig hinweg! Der Bassist als solcher erscheint zwar rein oberflächlich als nett und freundlich, innerlich aber hat er längst mit allen Bassisten dieser Welt gemeinschaftlich Rache geschworen! Das ist gewissermaßen genetisch veranlagt und soll auch als Anmerkung zum „Rock Hard“-Artikel gedacht sein: Ohne dass es die arroganten Mitmusiker gemerkt haben, haben Bassisten längst das Ruder in die Hand genommen und somit die wahre (und vor allem finanzielle) Gewalt über ihre Kapellen übernommen. Keine erfolgreiche Band dieser Welt wäre erfolgreich, hätte sie keine bassspielenden Finanzjongleure. Ich sage nur: Roger Waters (Pink Floyd), Steve Harris (Iron Maiden), Les Claypool (Primus). Bassisten bescheißen die Steuer, gründen Plattenfirmen oder gründen in weiser Voraussicht Import/ Export – Firmen wie der großartige Harry Jeske von den Puhdys (in diesem speziellen Falle war auch das Beherrschen dieses zauberhaften Instrumentes völlig unnötig!), damit sich der Rest der Belegschaft mal ´ne Mark borgen kann. Also, liebe Mitmusiker, pflegt und umsorgt eure Bassisten, tragt sie auf Händen, legt rote Teppiche aus, sorgt dafür dass es ihnen gut geht und an nichts fehlt. Ihr werdet es ihnen auf ewig danken.
Wo war ich stehen geblieben? Konstanz! Ja, wieder mal nix gesehen von Konschtanz und dem schönen Bodensee. Anstelle von Substyle spielten heute Cosmic im Vorprogramm, die ihr Set souverän erledigt haben und mit Charme kleine Pannen überbrücken konnten.
Vom Publikum habe ich heute leider so gut wie nichts mitbekommen, da ich heute meinen neuen 5-Saiter mal über die volle Rundendistanz einsetzen wollte. Nach 24 Jahren 4-Saiter war es eine ungewohnte Umstellung, die mich ein zweifelhaftes Gesicht aufsetzen ließ. Den Titel des „Gurkenkönigs“ („Am Galgen“ – oh Jesus und Maria!!!) verleihe ich mir daher voller Stolz heute selbst.
Der Sonntag ist zwar erst der 7. Tourtag in Folge, aber man fühlt sich, als ob man schon jahrelang so unterwegs ist. Dabei liegt gerade mal ein Drittel des ersten Tourteils hinter uns. Meine kleine Tochter sagte heute am Telefon: „Papa, du kommst jetzt sofort nach Hause, das Badewasser ist mir zu kalt.“ Aber wir sind ja keine sentimentalen Weicheier, oder?
Am Montag ist der erste Off Day und ihr bleibt aller Voraussicht nach von meinen geistigen Ergüssen verschont, ein Stadtbummel durch Stuttgart könnt ihr ja selber machen! Nicht mal der VfB ist hier sehenswert (abgesehen von dem ja eher zufälligen 1:0-Gemurmel gegen die Bayern). Ich hoffe, dass das Publikum morgen im Longhorn nicht dasselbe ist wie das, was ich heute so in der Stadt gesehen habe: Oh Schmuddelecken und Sündenbabel von Schwaben, wo seid ihr??? In diesem Sinne, es grüßt Euch (TTT) Die Lutter

27.9.99, Off Day (?)
Stuttgart war uns einfach zu langweilig und so ging es heute mit einem ausrangierten Aeroflot-Agrarflieger zu den geheiligten Stätten unserer Urahnen nach Sachsen, genauer gesagt in die Deutsche Eiche zu Zabeltitz-Treugeböhla.
Was waren das noch für Zeiten, in denen man von jedem einzelnen Fan noch die Telefonnummer (zwecks späterer Übernachtung) in der Hosentasche hatte und auch jeden Einzelnen per Handschlag am Tresen begrüßen durfte! Die großartigen Karrieren von Freygang und Noah ließen sich auch durch die hiesigen Gastspiele nicht aufhalten und gingen als Mega-Events zumindest in die sächsische Musikgeschichte ein. Lüttewitz-Dreißig, Weinböhla und Zabeltitz – was für geschichtsträchtige Orte, Orte, die auch unserem geliebten Freund Falco Richter nicht unbekannt sein dürften. Er stammt nämlich aus dieser Ecke.
Der riesige Kuhstall mit der einzig verbliebenen Kuh des Wirtes befindet sich immer noch direkt unter der Bühne, in den Pausen gibt es also auch von dieser Stelle aus lautstarke Liebesbekundungen.
Tresen-Lothar begrüßte die anwesenden Kapellen wahlweise mit Eisbein oder Blutwurst, Vegetarier sind hier unbeliebt. Dazu gab´s Grubenfusel oder Kaffeelikör – der im Übrigen den Ruf hat, seit Jahren das günstigste Preis/ Leistungsverhältnis aller Alkoholika zu besitzen.
Heute Abend waren wir dann mal der Support. Doch mit unserem Trumpf im Ärmel hatte hier niemand gerechnet: In Extremo traten in Jeans und Lederhose auf und spielten sich durch alle Platten von Ton Steine Scherben, Udo Lindenberg und der Schroeder Roadshow. Das hat gesessen! Nach uns trat dann noch Pusteblume, die Zenit Bluesband, Dialog und die Gruppe Vocal aus Erfurt auf, doch die hatten es natürlich schwer angesichts unseres unglaublichen 3-Stunden-Sets. Zum Abschluss gaben wir noch mit allen Beteiligten unsere Hymne zum Besten, die wir heute der sächsischen Landbevölkerung widmen wollten:
„Nuor ä Draum, nuor ä Draum am Leischendeisch!“
PS: Das Live-Doppelalbum „Anarchie in Zabeltitz“ erscheint voraussichtlich noch in diesem Jahr zu Weihnachten (zweisprachig) und wird dann wahrscheinlich damit Rammsteins „Live in Berlin“ endgültig auf die Plätze verweisen. Hoffnungsvoll verbleibe ich, Die Lutter

28.9.99, Stuttgart/ LKA Longhorn
Na, verwirrt? Es regnete halt den ganzen Tag und es ist langweilig im Bus, da muss man sich ein paar Geschichten einfallen lassen. Und wie ich vorgestern schon erwähnt habe, bieten Roadie-Tätigkeiten für Bassisten nicht die intellektuellen Anforderungen, die sie verdient haben. Nee, war natürlich ein Scherz. Bei In Extremo muss noch jeder mit anfassen – und das ist auch gut so. Na ja, meistens jedenfalls.
Im LKA Longhorn fielen mir als allererstes die Videokameras in den Toiletten auf. Was soll DAS denn? Dreht ihr da heimlich Soap Operas? Das wäre dann ja mal ein Quotenbringer für den SWR.
Da sollten wir am Nachmittag „noch mal schnell“ in der Sendung „Menschenskinder“ auftreten. Na ja, irgendwann hatten wir das dann auch im Kasten und die drei Minuten Playback (ja, dort wo man die Instrumente nicht zu stimmen braucht) wurden dann auch noch am selben Abend zur Freude der älteren Zuschauer gesendet. Zurück ging es per Taxi mit einem Fahrer, der weder unsere Sprache verstand, noch jemals vom LKA Longhorn gehört hatte. Weiter so!!!
Mit 1000 Zuschauern war das Longhorn sehr gut besucht, was uns natürlich am meisten gefreut hat, da In Extremo hier unten noch nie gespielt haben. Ich hoffe, euch hat es genauso Spaß gemacht wie uns. Besonders bedanken möchte ich mich heute einmal bei der Crew und dem Monitormann, die wirklich ein gutes Ohr hatten. Das ist ja leider nicht immer so. Jetzt geht´s nach Freiburg. Bis morgen, Die Lutter

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