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Zaungäste Gottes

Eine Muh, eine Mäh, eine Tätärätätä – Abstürzende Brieftauben (1992)
Little Drummer Boy – Boney M (Christmas Album/1981)

Nein, das wird keine Weihnachtsgeschichte, keine Angst. Ich bin mir übrigens ziemlich sicher, dass es da draußen noch viele, viele andere Leute gibt, die vom Weihnachtsrummel, besonders in der Vorweihnachtszeit, ebenso genervt sind wie ich. Da will ich nicht auch noch Öl ins Feuer gießen. Außerdem bin ich Atheist. Und was soll bei einem Atheisten anderes aus der Feder fließen, als ein Text, in dem ein betrunkener Weihnachtsmann endlich mal frei hat und tun und machen kann, wonach ihm der Sinn steht? Doch wo fange ich an, um das ganze Dilemma zu beschreiben? Ich glaube, ich habe da eine Idee:

Einer der schrecklichsten Tage des ganzen Jahres ist für mich jedes Mal aufs Neue der letzte Sonntag im Oktober, wenn wieder einmal die Uhren auf Winterzeit zurückgedreht und Dunkelheit, Schneeregen und Graupelschauer wie auf Bestellung vor der Tür stehen und einem das Leben zur Hölle machen. Manche Leute versuchen es einfach zu ignorieren, manche nennen es Winterdepression, doch es läuft auf dasselbe hinaus. November, allein das Wort löst bei mir leichte Panikattacken aus und ich erinnere mich gern an die Zeit, als mir diese Farce während meines Aufenthalts in Asien erspart geblieben ist. Doch leider ist das Paradies im südlichen Teil der Welt auch nur noch wetterbedingt ein solches, denn mittlerweile ist Weihnachten dort amerikanischer als in Amerika. Unfassbar, aber die Tannenbäume in Singapur, Bangkok und Shanghai sind greller geschmückt und um ein Vielfaches höher als in good old Europe. Und dazu müssen die Asiaten nicht einmal Christen sein.

Doch was wäre die dunkle Jahreszeit ohne Musik? Wenn ich Mitte November das erste rhythmische Gebimmel zarter Glöckchen im Supermarkt vernehme, lasse ich alles stehen und liegen und nehme die Beine in die Hand. Ich erspare euch hier meine Top 10 an musikalischen Verbrechen, nur so viel: Den ersten Platz hält seit Jahren unangefochten der „Little Drummer Boy“, dessen rappapapa-Tantra meinen Puls in ungewohnte Höhen treibt, wie ich ihn sonst nur auf einer Bergetappe mit einem Fahrrad ohne Gangschaltung erlebe. Leider hat sich „Eine Muh, eine Mäh, eine Tätärätätä“ nicht ähnlich großflächig durchgesetzt, dessen Text ja in einer ähnlichen Liga spielt. Sagen wir mal so: Der Text ist im Grunde genommen noch bescheuerter, aber schon wieder so aus der Spur, dass er irgendwie schon wieder als Scherz durchgeht. Ganz im Gegensatz zum melancholischen Schmalz über den kleinen Trommler, der außer mit seinem Getrommel nichts weiter zur Geschichte beizutragen hat. Troubadix lässt grüßen!

Ich erinnere mich an diverse Kinderweihnachtsfeiern bei der Weißen Flotte in meiner Heimatstadt Potsdam, bei dem eine Muh und eine Mäh quasi den Höhepunkt der Veranstaltung ankündigte: die Ankunft des Weihnachtsmannes. Und ich höre mich selbst noch die Bestellung einer „Tätärätätä“ bei Knecht Ruprecht einfordern, einem schlecht verkleideten Mitarbeiter des Ausflugsdampfers, der mir dafür mit der Rute drohte, würde ich ihm später damit ins Ohr trompeten. Scherzkeks.

Nur um eines klarzustellen: Atheisten schenken gern und bekommen natürlich auch gern etwas geschenkt. Doch für uns wäre sicherlich die Weihnachtszeit ohne das ganze Drumherum viel leichter zu ertragen. Das „Fest der Liebe“ kann doch nicht bedeuten, dass man sich einmal im Jahr drei Tage lang zusammenreißt, um die Verwandtschaft zu ertragen und hofft, dass man mit seinen Geschenken halbwegs richtig gelegen hat. Ich freue mich auf gutes Essen, auf Freunde und Familie und hole dann auch gern die Flasche Rioja Jahrgang 2011 aus dem Keller, für die ich einen unverschämten Preis im Weinladen meines Vertrauens bezahlt habe. Des ehemaligen Vertrauens, um genau zu sein.

Nach zwei Tagen Schlemmerei ist es dann auch genug. Ich bin am 2.Weihnachtsfeiertag gern wieder unterwegs, der 2.Feiertag ist immer ein Höhepunkt, egal mit welcher Band man gerade auf Tour ist. Die Stimmung ist grandios, es kommen fast immer mehr Leute als zu normalen Konzerten und man trifft Freunde an völlig anderen Orten, weil sie ebenfalls auf Weihnachtsbesuch sind und ihnen an Tag 2 nach Heiligabend die Decke auf den Kopf fällt. Auch beim Merchandising brennt regelmäßig der Baum, obwohl der Geschenke-Marathon doch eigentlich beendet sein müsste. Die Leute kaufen wie verrückt – alles muss raus! Den Grund dafür kann ich mir nicht erklären, ich kann mir nur vorstellen, dass ich nicht der Einzige bin, der gern wieder unterwegs ist. Weihnachten ist eben auch anstrengend und die Gänsekeulen und Kräuterschnäpse zum Verdauen der Fleischberge hinterlassen kratertiefe Spuren.

Da ich gerade bei Heimatbesuchen bin, versuche ich noch einmal die Kurve zu bekommen, auch wenn die Geschichte damit wohl trotzdem nicht mehr in eine klassische Weihnachtsgeschichte mündet. Als es noch keine Bands gab, mit denen ich mich heimlich aus dem Staub machen konnte – als ich also noch zu Hause gewohnt habe – musste man sich etwas anderes einfallen lassen. Wir haben mit ein paar Kumpels bei der Jugendgruppe der Kirchengemeinde kleine Geschenke gesammelt und verpackt, um sie anschließend an Leute zu verteilen, die über die Feiertage arbeiten mussten, Polizisten, Krankenschwestern, Feuerwehrleute, Taxifahrer. Allen stand ein Lächeln ins Gesicht geschrieben, wirklich allen – bis auf den Volkspolizisten, die keine Gaben von uns „Kirchenheinis“ annehmen wollten. Dann eben nicht!

Um den Widerspruch kurz aufzuklären: Ich glaube nicht an Gott – keiner meiner Kumpels tat das im Übrigen – aber wir waren alle scharf auf Susanne, die Pfarrerstochter, in deren Nähe sich alle gern herumdrückten. Es war kompliziert, aber es schien nicht unmöglich, irgendwann bei ihr zu landen. Sie war dermaßen hübsch, dass sie quasi im Dunklen leuchtete. Und so legten sich alle ins Zeug und übertrafen sich gegenseitig. Das Ende vom Lied? Im Januar bekam die Familie von Susanne ihre Ausreise genehmigt und ward nicht mehr gesehen. Doch welche Motivation man auch immer für seine guten Taten hat, am Ende des Tages kommt es doch nur auf das Ergebnis an, oder?

Mein Vater war in dieser Hinsicht ähnlich pragmatisch wie ich. Unsere erste Wohnung in Potsdam war direkt in der Innenstadt, nicht weit entfernt vom Park Sanssouci. Wir waren als Jugendliche oft im Park unterwegs, denn die Schlösser und Gärten waren noch nicht so saniert wie sie es heute sind und es gab an jeder Ecke etwas zu entdecken. Besonders die Friedenskirche hatte es mir angetan, die in ihrer Schlichtheit und dem bröckelnden Putz immer so aussah, als hatte sie gerade eben noch gebrannt und wäre vor ein paar Tagen erst gelöscht worden. Wenn ich im Urlaub mal eine katholische Kirche betrat, war ich vom Prunk und Reichtum immer dermaßen erschlagen, dass ich es kaum ein paar Minuten dort drinnen aushielt. Außerdem dachte ich, dass man es mir ansehen konnte, dass ich nicht an Gott glaubte und mich deshalb in den nächsten Sekunden der Blitz treffen würde. Das ist zwar Blödsinn, aber ich bleibe bis heute sicherheitshalber auf Abstand. In der Friedenskirche hingegen war alles anders, hier war es schlicht, hier gab es nur ein paar abgeranzte Kirchenbänke, eine Kanzel und wenig Schmuck und Beiwerk. Dafür war es schweinekalt, im Sommer wie im Winter. Das war gerade gut genug um seine Freundin auszuführen, denn hier konnte man sie mit gutem Grund endlich umarmen und zum Küssen überreden, wenn es denn sonst schon keine Gelegenheit dazu gab.

An einem Heiligabend Anfang der 80er Jahre überredete mein Vater die Familie zu einem Besuch der Friedenskirche, um uns ein wenig in Weihnachtsstimmung zu bringen. Mir hätte ein Glühwein zwar auch gereicht, aber da ich die Kirche mochte, willigte ich ein. Hier drinnen war es sonst leer und muffig und ich schaute ab und an mit meinen Kumpels vorbei, um den morbiden Charme zu bewundern, den wir damals natürlich noch nicht „morbiden Charme“ nannten. Es war einfach gruselig, besonders weil sich direkt unter uns eine Gruft mit alten Sarkophagen befand. Nun war alles mit Kerzen hell erleuchtet, es lief klassische Musik im Hintergrund und der Pfarrer schaute bewundernd auf die Schäfchen zu seinen Füßen, deren Anzahl sich auf wundersame Art und Weise regelmäßig zu Heiligabend verzehnfachte. Man merkte ihm an, dass etwas in ihm arbeitete, als er mit der Begrüßung begann. An den genauen Wortlaut kann ich mich nicht mehr erinnern, weil er mich tatsächlich nicht sonderlich interessierte, denn ich dachte an meine Freundin Simone und daran, was sie in diesem Moment wohl ohne mich tat. Doch ich merkte, wie mein Vater neben mir zusammenzuckte und seine Hand vor den Mund nahm, um sich ein lautes Lachen zu verkneifen.

„Was hat er denn gesagt?“, stupste ich ihn an und ich erkannte eine Träne hinter seinen Brillengläsern.
„Er hat uns begrüßt!“, kicherte mein Vater.
„Na und? Das macht man doch so in einer Kirche!“
Da war mein Vater drauf und dran einen Lachanfall zu bekommen, was ihm böse Blicke von meiner Mutter einbrachte, die auf der anderen Seite saß.
„Aber nicht als Zaungäste Gottes!“, prustete mein Vater plötzlich los und bahnte sich einen Weg durch die Reihen, um draußen vor der Tür laut weiterzulachen.

So ist es wohl, dachte ich bei mir, wenn Atheisten in die Kirche gehen. Sie zünden die falschen Kerzen an, stehen mit ihren Fotoapparaten als Touristen stets im Weg herum, blitzen dort, wo es verboten ist oder bekommen ob der Ernsthaftigkeit der Geschichte einen Lachanfall. Ich folgte meinem Vater vor die Tür und wir machten einen kleinen Spaziergang in den Innenhof, in dem eine große Statue von Jesus steht. Der hatte mir schon immer gefallen, steht er doch mit ausgebreiteten Armen, mit langen Haaren und nur mit einem Umhang bekleidet seit Jahren an derselben Stelle und blickt selbstbewusst in die imaginäre Menge. Wüsste ich es nicht besser, dann hätte ich ihn für einen Rockstar gehalten, für Jim Morrison oder wenigstens Marc Bolan.

„Feiert meinen Geburtstag doch wie ihr wollt!“, schien er zu sagen. „Aber Hauptsache ihr feiert!“

4 Kommentare
  1. Margitta Matys sagte:

    Lieber Kay das ist eine sehr schöne Geschichte. Ich musste Mal nicht selber lesen sondern dürfte deiner sanften Stimme lauschen träumen und genießen.
    iebe Grüße Margitta

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  2. Margitta Matys sagte:

    Lieber Kay,
    Das ist eine sehr schöne Weihnachtsgeschichte geworden. Sage mal ist der Weihnachtskater auch aus deinem Kugelschreiber gefallen? Ich genieße es sehr deine Sanfte Stimme zu hören und mal nicht selber zu lesen. Ich würde mich sehr mal über ein Hörbuch von dir freuen.
    Ein schönes Weihnachtsfest für dich und deine Familie + (deine 5 Brüder)
    Liebe Grüße Margitta

    Antworten
  3. Margitta sagte:

    Das ist eine sehr schöne Geschichte habe sie auch hören dürfen.
    Du hast eine sehr sanfte Stimme. Bitte gib uns gerne mehr.
    Liebe Grüße
    Margitta

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  4. Gaby sagte:

    Coole Geschichte. Kurz zum letzten Absatz zur Jesusstatue: Jesus hat selber damals die Gottesdienste durcheinander gebracht und sich nicht so verhalten, wie man sich sollte:) Die die gegen ihn waren, waren die Besatzungsmacht (die Römer) und die scheinheiligen Pharisäer. Und die Leute mit denen er „rumgezogen“ ist, waren die einfachen Leute, die Unterschicht, die Ausgestoßenenen, Verbrecher und Prostituierten. Nur als Gedankenanstoß: Jesus kommt mit seinen Freunden auf eine Hochzeit, wo alle betrunken sind und kein Alkohol mehr da ist. Und was sagt er? „Was wir hier jetzt brauchen, ist richtig viel guten Wein.“ 😀 vielleicht müssen wir unser Bild von ihm überdenken.

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