Raststätten-Dilemma

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Nackt im Wind – Band für Afrika (Nackt im Wind, 1985)

Es würde wohl noch eine ganze Weile länger dauern, bis ich mich wieder in die verschütteten Regionen meiner Erinnerungen zurückgearbeitet hätte, wäre da nicht diese eine Geschichte mit unserem alten Gitarristen und seiner letzten Fahrt im Nightliner. Es war im Oktober 1999, es war die letzte Nacht vor dem letzten Tourtag einer fast dreiwöchigen Tour, die uns von der Markthalle in Hamburg einmal quer durch das ganze Land wieder hoch nach Bremen führte. Es war unsere erste Tour durch Klubs und Stadthallen überhaupt, denn In Extremo hatten bisher nur akustisch auf Mittelaltermärkten gespielt, abgesehen von ein paar vereinzelten Rockkonzerten an den Wochenenden, zu denen wir mit unserem alten, orangefarbenem Ford Transit unterwegs waren, dessen 2.Gang seit Jahren nicht mehr funktionierte. Man konnte nur inständig beten, dass die alte Karre nun endgültig verschrottet war und nicht noch eine weitere Karriere in Osteuropa gestartet hatte.

Wie auch immer. Für uns begann eine neue Ära, denn nun waren wir mit großem Tross als Rockband mit Plattenvertrag, Tourneeplan und eigenem Merchandising unterwegs und wechselten zum Nightliner, um alle Konzerte auf die Reihe zu bekommen. Wir fuhren also von Bad Salzungen, einer kleinen Stadt tief unten im Thüringer Wald, die Autobahn hoch zu unserem letzten Konzert nach Bremen, bevor in knapp einem Monat ein weiterer Block begann. Die Band war glücklich und betrunken, die Tour lief unerwartet gut und das Adrenalin ließ uns noch lange nicht schlafen. Wir hatten uns bereits an das Leben im Bus gewöhnt, auch wenn die Betten eng, der Kühlschrank stets leer, dafür die Aschenbecher immer randvoll waren. Jede zweite Raststätte wurde mit großem Hallo geentert, diverse Bierkästen, Wein- und Red Bull-Stiegen wechselten den Besitzer und auch das Zigarettendepot wurde sorgsamst immer wieder aufgefüllt. So ging das nun schon seit einer gefühlten Ewigkeit und auch in den nächsten Wochen war keine Änderung in Sicht. Dachten wir jedenfalls.

Unser Busfahrer, den wir schon am ersten Tourtag zum Bandmitglied befördert hatten, mahnte uns gleich am ersten Abend, dass wir ihm in der Nacht auf den Raststätten ein Zeichen hinterlassen sollten, falls er nicht hinter dem Lenkrad saß und wir das dringende Bedürfnis eines Toilettenbesuchs hätten und den Bus verlassen wollten. Wir einigten uns darauf, dass jeder seinen Tourpass bei ihm auf den Fahrersitz legen würde und das klappte sogar mit den betrunkensten Businsassen. Die Horrorvorstellung, mit noch hängender Hose die Rücklichter des Busses in der Ferne verschwinden zu sehen, war extrem abschreckend.

Auch unser Gitarrist wusste um diese Regel, doch er kränkelte seit geraumer Zeit und wir verfrachteten ihn deshalb tagsüber in ein Hotelzimmer, damit er sich erholen konnte und holten ihn erst kurz vor dem Soundcheck wieder ab. Doch er war nicht nur krank geworden – auch der Rest der Band wirkte reichlich angeschlagen – er zweifelte schon seit Monaten an sich selbst, besonders an der Frage, ob er mit zunehmenden Erfolg der Band seinen sicheren, unkündbaren Job gegen eine unsichere Existenz als freischaffender Musiker aufgeben solle. Er musste sich entscheiden, denn In Extremo waren mittlerweile zu einem full time job geworden.

Thomas war nicht gut drauf, aber das Tourende war in Sicht und er hätte danach alle Zeit der Welt gehabt sich zu erholen und ein paar Entscheidungen zu fällen. Er trank noch ein Bier mit uns und verabschiedete sich zu einer musikeruntypischen Zeit ins Bett. Doch unser Gitarrist und ich waren Frühaufsteher und so trafen wir uns meistens so gegen 7:00 Uhr bei unserem Busfahrer, bei dem sich natürlich auch die Kaffeemaschine stand und laberten bis zur Ankunft am Veranstaltungsort über Gott und die Welt, bevor wir uns dann noch einmal hinlegten.

„Wo ist denn Thomas? War der schon hier?“, fragte ich Karsten, der gerade einen Parkplatz auf der Autobahn kurz vor Bremen angesteuert hatte, um eine letzte Pause zu machen. Er fummelte umständlich eine Zigarette aus der Schachtel, die sich vorn hinter der Glasscheibe verklemmt hatte und schüttelte müde den Kopf.

„Der schläft noch! Ich war vorhin oben. Die Schuhe stehen vor der Koje und drinnen liegt auch jemand!“

Ich ahnte Schlimmes, denn ich schlief direkt über unserem Gitarristen und musste mich immer verrenken, um aus meinem winzigen Bett zu steigen. Dabei versuchte ich immer mit den Füßen die Mitte des Vorhanges des Bettes unter mir zu treffen, um mich anschließend am Rahmen abzustützen, bevor ich oft unsanft im Dunklen auf seine umgekippten Stiefel mit den Metallschnallen trat. So auch dieses Mal. Mühsam ertastete ich den Lichtschalter, denn ich hatte in der letzten Kurve zum Parkplatz seinen Vorhang etwas abgerissen und festgestellt, dass sein Bett leer war. Allerdings lagen seine Klamotten im Bett, teilweise sogar so zugedeckt, dass man davon ausgehen konnte, dass dort jemand lag.

„Karsten, das Bett ist leer. Haben wir ihn auf der Raststätte vergessen?“
Unser Busfahrer verschluckte sich am Rauch und starrte mich entgeistert an.

„Hier lag aber kein Pass auf dem Sitz!“

Ich zuckte nur mit den Schultern und war sprachlos, denn uns beiden war in diesem Moment klar, dass unser Gitarrist noch irgendwo auf der A 7 an einer Raststätte herumstehen musste. Was wir nicht wussten war der Umstand, dass er, bis auf eine Turnhose bekleidet, quasi nackt war. Er war sogar barfuß losgelaufen und hatte, bis auf die 50 Pfennig, die er anscheinend der Klofrau geben wollte, auch kein Geld dabei. Ich nahm mein Handy und versuchte seine Freundin zu erreichen.

„Schön, dass du anrufst. Thomas steht an der Raststätte soundso und wartet, dass ihn jemand abholt. Mehr weiß ich auch nicht. Er war nicht sehr gesprächig.“

Wenigstens ein kleiner Erfolg, nun versuchten wir unsere Supportband Substyle zu erreichen, die mit ihrem Wohnmobil unterwegs war und immer erst am nächsten Morgen losfuhr, nachdem der nüchternste Fahrer auswürfelt war. Nach ewigen Zeiten ging endlich jemand ran.

„Geht klar!“, nuschelte es aus dem Hörer. Substyle hatten den Würfelwettbewerb anscheinend noch nicht einmal begonnen und man roch die Fahne der Kollegen quasi durch den Hörer. „Wir sacken ihn mit ein!“ Im Hintergrund hörte ich, wie der Rest der Band losprustete und sich kaum mehr einkriegte. Auch Karsten und ich mussten plötzlich loslachen, denn die Bilder, die jeder einzelne von uns im Kopf hatte, waren einfach unbezahlbar.

Irgendwann erreichten wir schließlich Bremen, der Busfahrer zog den Zündschlüssel und so nach und nach trudelten auch die Herren Musiker aus der oberen Etage des Busses am Kaffeeautomaten ein und malte sich die Geschichte in den tollsten Farben aus. Klar, das war ein weiterer Grund für eine weitere Party, auch wenn es noch relativ früh am Morgen war. Aber schließlich war heute unser allerletzter Tourtag, Bergfest der Gesamttour, Vollmond, Nichtgeburtstag und was weiß ich nicht noch alles. Als die Crew plötzlich das unsägliche „Nackt im Wind“ anstimmte, gab es kein Halten mehr. Dann bauten wir auf der Zufahrt zum Veranstaltungsort eine kleine Barrikade auf, hinter der sich das Begrüßungskommando mit Fahnen, Sekt, Bier und nur mit Unterhosen bekleidet, verschanzt hatte, um die Ankunft des Wohnmobils zünftig zu begrüßen!

Wir hatten riesigen Spaß, alle – bis auf einen – und hielten uns sogar am Abend bei der Show noch ganz tapfer. Doch irgendwie wurde mir an diesem Abend klar, dass Thomas sich bereits gegen eine Karriere als Gitarrist entschieden hatte. Vielleicht war es auch gut so. Doch immerhin ging seine letzte Fahrt im Nightliner in die Annalen ein und wird wohl auch unvergessen bleiben.

10 Kommentare
  1. Katrin sagte:

    Kay, das ist so gut geschrieben, dass ich sofort Bilder im Kopf hatte. Da ich Thomas auch kenne, kann ich mir sein Gesicht bei seiner Ankunft gut vorstellen. Schreib einfach weiter, es ist immer interessant deine Geschichten zu lesen!

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  2. Suse sagte:

    Vergessen an einer Tanke, das kommt mir bekannt vor 🙂 Ich war Betreuerin und die Kids sind mit Sack und Pack und Bus weiter in Richtung Zeltlager gefahren. Allerdings hatte ich die eindeutig besseren Voraussetzungen als Euer Gitarrist.
    Zumindest war ich vollständig bekleidet und hatte die Party noch vor mir. Ja, mit solchen Erinnerungen wird´s einem warm ums Herz.

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  3. Stefanie Kaebe sagte:

    So schön, dass du wieder schreibst! Ich lese und höre sehr gern deine Geschichten und hoffe, dass noch viele folgen 😉

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  4. Udo B. aus D. sagte:

    Eine sehr schöne und witzige Anekdote aus dem unerschöpflichen Inex-Fundus. Ich wünsche mir, dass auch Thomas mittlerweile darüber lachen kann. 🙂
    Übrigens: Thomas hat seit nun mehr 20 Jahren eine eigene Band: „Der Münzer“. In dieser spielt noch ein weiterer Weggefährte von Kay mit: Reiner Morgenroth alias Der Morgenstern.

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  5. Birgit Drube sagte:

    Hallo Kay, ich bin eigentlich durch Zufall auf dein Buch gestoßen und habe es nach dem Kauf in kürzester Zeit gelesen wie noch nie in Buch zuvor. Einfach wunderbar wie du diese Zeit beschreibst. Ich habe in Erinnerungen geschwelgt und die Bilder liefen vor mir ab. Gedanklich zurückversetzt in diese Zeit und an die erlebten Freygang Konzerte konnte ich es kaum aus der Hand legen.
    Super toll wäre es, wenn du noch mal eine Monomann Tour planen würdest. Ich wäre dabei. Herzlichst Birgit

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